Jagdzeit
ihnen war der Kopf komplett weggeschossen.
Während Ken immer noch hinstarrte, erinnerte er sich endlich an die mögliche Gefahr eines Hinterhalts, gelangte zur Tür und fiel ins Mühleninnere. Er weinte und versuchte damit aufzuhören, weil ihm klar wurde, wie viel Lärm er machte und wie schutzlos er war.
Nach einer Zeit, die ihm ewig vorkam, gelang es ihm, sich wieder zusammenzureißen.
Greg war da draußen. Er konnte seine Füße sehen. Die Mühle war immer noch leer und ruhig. Ken erhob sich schwankend, mit einem plötzlich heftigen und fast schmerzhaften Durst. Zunge und Mund waren staubtrocken. Und die Feldflasche hatte er im Sumpf zurückgelassen, da er geplant hatte, Wasser vom See zu trinken.
Er musste Greg dort abschneiden. Irgendwie rauf zur Dachrinne, oder etwas finden, um draufzustehen und das Seil durch zutrennen. Er konnte diese Leiche nicht in seiner Nähe ertragen. Reichte völlig aus, um einen verrückt zu machen. Und was die Ratten damit gemacht hatten, heilige Scheiße, das passiert mit dir, wenn du tot bist. Dein lippenloses Gesicht wird grinsen wie das von Greg, so als wüsstest du, dass du tot bist und aufgefressen wirst, es dir aber nichts ausmacht. Sie werden deine Augäpfel und deine Eingeweide und deine Hoden verputzen, und du wirst weiterlächeln.
Er horchte und hörte wieder die Ratten. Sie hatten erneut zu quietschen begonnen. Eine erschien bei den losen Brettern des Mühlenbodens, huschte zu der vermoderten Türschwelle und schlüpfte hinaus.
Wann war Greg da aufgehängt worden? Jetzt eben, während er in der Hütte gewesen war? Oder gestern Nacht? Und warum? Damit er schoss und sich damit verriet? Oder nur, um ihn zu erschrecken? Beides war gelungen. Ken wischte sich den Schweiß ab und fluchte im Stillen. Er hatte fast komplett die Nerven verloren. Er hätte getötet werden können. Warum war er eigentlich noch am Leben? Wo war sein Jäger? Wo?
In der Finsternis der Maschinerie? Zwischen dem kalten Eisen, dem Rost und dem schimmligen, verrottenden Sägemehl?
Plötzlich sprach die Stimme vom Tonband wieder, durchbrach die Stille wie eine Explosion.
„Guten Morgen, Ken. Endstation würde ich sagen. Der Schuss, das war ich. Dachte, wir sollten zur Sache kommen und aufhören herumzualbern. Kannst du dich noch ans College erinnern? Alicia Rennick? Nun …“
Ohne nachzudenken, hatte er bereits geschossen. Er hatte das Tonbandgerät so schnell entdeckt, dass sein Gehirn wieder nicht registrierte, was seine Augen sahen. Wie bei Greg vorhin, hatte er etwas gesehen und abgedrückt, ohne dass sein Bewusstsein erfasste, was er wahrnahm. Ohne überhaupt an irgendwas zu denken. Nicht an einen möglichen Hinterhalt, nicht an seine Nerven, die mittlerweile blank lagen, nicht daran, dass ihn seine Dummheit dem Willen eines Mannes gehorchen ließ, der ihn töten wollte. Einfach so. Beim Klang ei ner Stimme.
Das Gerät stand ganz einfach auf dem Boden, mitten in dem riesigen Mühlenraum. Ein kleiner, kompakter, teurer Rekorder, der die Stimme fast perfekt wiedergab, ohne mechanische Nebengeräusche oder Transistorrauschen.
Kens erster Schuss durchbohrte das faulige Holz unter dem Gerät, welches dadurch in die Luft geschleudert wurde. Die nächsten zwei trafen es, während es zu Boden fiel, immer noch sprechend. Es zerbarst in ein heilloses Durcheinander von nutzlosem, zerfetztem Metall. Ein Nichts aus Chrom und Plastik.
Er wirbelte herum und schickte eine zweite Feuersalve in Richtung der schweigenden Masse des eisernen Dampftriebwerks.
„Komm verfickt noch mal raus, du Arschloch. Ich bring’ dich um.“
Das Dröhnen der Schüsse verhallte, und die kreischenden Vögel beruhigten sich wieder.
Keine Antwort.
„Komm raus!“
Da raschelte etwas. Eine Ratte tauchte aufgeschreckt bei Greg unter die Bodenbretter. Ken gab seinen letzten Schuss auf die Stelle ab, wo die Ratte verschwunden war. Und lud nach.
Verfickt verfluchter Ort. Bloß weg hier. Sonst drehst du noch durch. Aber nicht an Greg vorbei. Halt. War das etwa der Plan? Ihn zu der großen Doppeltür und dort in einen Feuerhagel zu treiben?
Wie schade, Mister. Ich bin vielleicht blöd, aber nicht so blöd.
Ken sprintete lautlos zur Südostecke der Mühle und stieß mit einem heftigen Tritt eine Holzplanke nach außen. Er zwängte sich durch den Spalt und landete bäuchlings auf dem gefrorenen Boden. Er rappelte sich auf, unter stechenden Schmerzen von aufgeschürften Ellbogen, Knien und Gesicht, und raste vorwärts ins
Weitere Kostenlose Bücher