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Jagdzeit

Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Osborn
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eine wehrlose Zielscheibe abgab. Wie gestern. Der Rekorder hatte seine Wirkung eingebüßt, also was Neues versuchen. Egal, was. Solange es ihm, Ken, zeigte, dass es kein Versteck gab und keine Hoffnung.
    Ein Frösteln kroch ihm über Lenden und Rückgrat bis hinauf in den Nacken. Solange er solchermaßen beschäftigt wurde, würde er nicht zu fliehen versuchen, bis es zu spät war. Könnte auch das ein Grund sein?
    Na schön. Er musste jetzt sofort das Boot finden. Er wollte nicht riskieren, das offene Wasser ohne Boot zu überqueren. Er versuchte, klar zu denken, nicht in Panik zu geraten. Das Boot. Jetzt nicht lange rumhirnen. Das Boot. An nichts anderes denken.
    Wenn du ein Boot verstecken willst, richtig gut verstecken, wo würdest du es verstauen, ein leichtes, tragbares Boot? Und plötzlich war ihm klar, wo das Boot sein würde. Nicht am Ufer, wo man es leicht entdecken konnte, sondern am letzten Ort, an dem jemand es vermuten würde. In der Mühle. Unten in der Aschengrube oder vielleicht im Rattenloch. An einem wirklich sicheren Ort. Oder hinter der Eisentür, unten im Kamin. Zum ersten Mal seit zwei Tagen verzog sich Kens Mund zu einem schwachen Lächeln. Seine Zuversicht kehrte zurück.
    Er beschloss, den Rucksack dazulassen. Er ging in die Küche und stellte Zwieback und Feldrationen für mehrere Tage zusammen. Er schnallte eine Feldflasche um und stopfte Streichhölzer, Zigaretten, einen Kompass und frische Socken in seine Jacke. Er band sich ein frisches, wollenes Jagdhemd um die Hüften, zusammengerollt wie ein schwerer Gürtel. Seine Jagdhosen hatten Wadentaschen. Er füllte sie mit Patronen.
    Ohne Zwischenfall schaffte er es bis zum Dickicht zwischen der Lichtung rund um die Hütte und der Mühle. Ein Schwarm Krähen in einem Baum nahe am See rührte sich nicht. Eine der Krähen flatterte schwerfällig los und landete auf dem Dach der Mühle.
    Die werden sich bald über Greg hermachen, dachte Ken, wenn er noch dort ist, wenn die Ratten noch was von ihm übrig gelassen haben.
    Die Krähe beobachtete Ken, als er, wie gestern, die Ostseite der Mühle entlanglief, und flatterte schließlich alarmiert weg, während sie ihre Artgenossen mit scharfen Rufen warnte.
    Ken legte sein Auge an denselben Spalt im Holz wie gestern. Die Mühle war unauffällig ruhig und leer. Er zwängte sich an der Stelle hinein, wo er gestern das Brett herausgetreten hatte. Kampfbereit richtete er sich auf. Es schien drinnen kälter zu sein als draußen, eine feuchte, muffige Kälte. Sein Atem dampfte.
    Eine Kohlmeise flog durch die Tür und landete flügelschlagend auf der alten Maschinerie. Es konnte niemand dort sein.
    Genau wie gestern huschte er die Mühlenwände entlang, zuerst nach Osten, dann vorsichtig an der Seitenwand nach Norden. In der Mitte der Nordwand war die offene Tür. Gestern hatte er just da draußen Greg gesehen. Mit Entsetzen drängte er die Erinnerung zurück, und bevor er zu der Tür kam, wagte er einen Blick durch die breiten Ritzen in den mächtigen Planken.
    Und er sah Gregs gestiefelte Füße, seine mit verwesenden Innereien bespritzten, herunterhängenden Hosen. Greg war also noch da. Eine Ratte kam unter einem Bodenbrett hervor, witterte Leben in der Nähe und flüchtete zurück. Ken würgte und ging weiter.
    Schließlich an der Tür angekommen, zögerte er und blickte hinaus zum Wald gegenüber. Er trat ein wenig zurück. Offene Türen waren gefährlich. Beim Durchqueren konnte man entdeckt und erschossen werden, kinderleicht. Von jemandem, der im Gebüsch wartete. Mit einem Druck auf den Abzug.
    Er machte sich bereit los zu sprinten.
    Die Stimme sprach.
    „Guten Morgen, Ken. Endstation würde ich sagen. Jetzt bist du dran, wie Art und Greg.“
    Schweigen. Irgendwo ein donnernder Lärm, ein Vogel flatterte um den Dachfirst.
    Diesmal war es keine Aufzeichnung. Diesmal war die Stimme wirklich. Wirklich und unwirklich. Wirklich, weil der Moment endlich gekommen war, unwirklich, weil sich die Wirklichkeit plötzlich mit dem donnernden Flügelschlag des kleinen Vogels und dem hörbaren Pochen seines eigenen Herzens vermischte. Die Wirklichkeit war plötzlich ein verschwommenes, verschleiertes Bild, ein Gefühl weit weg, wie im Traum.
    „In weniger als zwei Minuten“, sagte die Stimme deutlich, „werde ich dich erschießen.“
    Ken feuerte. Wild riss er am Schlagbolzen seines Gewehrs und schickte einen Schuss nach dem anderen in die Holzverkleidung der Mühle, Kugeln krachten durch die alten Planken,

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