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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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Das Tor ging automatisch wieder zu, in einem die Härte und Endgültigkeit von zivilisatorischer Abgeschiedenheit unterstreichenden Tempo. Cecile befand sich auf dem Grundstück ihrer Eltern und wusste, dass das alles eine nicht anders zu benennende Scheißentscheidung gewesen war. Der Audi, von Gloria als subtile Anspielung auf eine irgendwo abgestellte Oldtimersammlung in einem Nebensatz als »Geländewagen« bezeichnet, fuhr eine zum Grundstück gehörende Zufahrtsstraße hinauf – es waren mehrere gewundene Kilometer, von Wald umgeben. Der Weg führte durch zwei weitere Eisentore, die aufwendig auf- und wieder abgeschlossen werden mussten. Gloria parkte den Wagen auf dem aus Schotter und Rasen und Marmorstatuen zusammengesetzten Rondell vor einem klassizistisch-barocken, extrem symmetrischen Palast, an Schönheit und Kitsch von Disney kaum zu übertreffen. Sie zog die Handbremse an und suchte irgendwas in ihrer Handtasche. Den Ausspruch als nebensächliche Information tarnend, sagte sie: »Frank hatte einen kurzen, angestrengten Moment, als er erfahren hat, dass du kommst«, und fand währenddessen einen Lippenpflegestift in ihrer Tasche, den sie jedoch nicht benutzte. Es dauerte mehrere Sekunden, bis Cecile die Härte dessen realisierte, dass ihr sogenannter Vater einen »angestrengten Moment« ob ihrer angekündigten Präsenz erwähnt hatte. Der Verlust des Glaubens an bedingungslose Familienzugehörigkeit entzog ihr jede Fähigkeit zu folgerichtigem Handeln, welches in diesem Fall darin bestanden hätte, das Auto und das Gelände augenblicklich zu verlassen, nie wieder zu betreten und die Bande der angeblichen Blutsverwandtschaft zu kündigen, für immer. Sie hätte zumindest weinen können oder fragen, ob sie adoptiert sei. Stattdessen lächelte sie debil.
     
    »Das Wetter ist halt super, und er will nackt im Garten rumrennen oder so, nimm ihm das nicht übel. Der ist gerade eh ein bisschen komisch, er hat jetzt so ein Elektrobike und dazu so Regenschuhe und allen Schnickschnack, und zum Geburtstag hat ihm eine unserer Putzfrauen auch so ein Köfferchen zum Hintendraufstellen geschenkt, alles auch ganz stylish, also nicht mit so Radlerhosen und bunten T -Shirts, da hätte ich eh gesagt: ›Jetzt trennen wir uns sofort‹ – und jedenfalls gucke ich dann vorgestern an die Haustür, baumelt da der Haustürschlüssel, und Cecile, so was hast du in deinem Leben noch nicht gesehen – so ein hässliches braunes Beutelding mit Reißverschluss. Und ich sage: ›So eins hat noch nicht mal Oma Inge.‹ So ein Schlüsseletui. Braunes Leder mit einem dicken, weißen Streifen. Und ich sage: ›Frank, ich bitte dich.‹«
    »War es denn so schlimm?«
    »Cecile, wenn du das gesehen hättest, das hatte noch nicht mal mein Vater. Ich weiß gar nicht, wo er diese fundamentale Grässlichkeit aufgetrieben hat.«
    »Und ich weiß gar nicht, was es ist.«
    »Das ist, also, die Schlüssel hängen an einem Ring, und da drunter baumelt so ein braunes Mäppchen rum mit nem Reißverschluss, wo die Schlüssel dann reinkommen, aber so ein Altmännerding, so ein furchtbares Teil, dass du dich echt aufs Übelste erschreckst, wenn du auf die Haustür guckst. Okay. Auf jeden Fall hab ich gesagt: ›Frank, irritier mich nicht.‹ Er nahm das auch in Würde hin. Und dann hatte ich mich gerade von der Diskussion erholt, mache in einem der Badezimmer den Spiegelschrank auf, und dann steht da Old Spice Original drin. Und ich sage: ›Frank, ich habe mir mal irgendwann einen coolen Jeanstypen mit langen Beinen ausgesucht, das geht jetzt gar nicht.‹ Und dann hat er gesagt: ›Ja, das stand da halt irgendwie.‹ Und dann hab ich gesagt: ›Nein, Frank, Old Spice Original steht nicht irgendwo rum, das muss man suchen.‹ Ist aber auch egal. Er ist nicht sonderlich gut drauf gerade« – und Cecile antwortete freundlich und zurückhaltend, in einem schockinduzierten Zustand von Anpassungsfähigkeit: »Keine Sorge, ich schlafe, glaube ich, eh die ganze Zeit«, woraufhin Gloria, ohne eine Miene zu verziehen, anmerkte, dass sie ihm das auch schon gesagt habe, und damit stiegen beide aus dem Auto aus, um auf die mit Risaliten oder so ausgestattete Portalachse zuzulaufen. Cecile sah ihre Mutter an und stellte zum wiederholten Mal fest, wie unfassbar schön sie war. Ungeschminkt, in irgendeinem T -Shirt, monogame Haut, eine perfekte und unaufdringliche Anordnung von Gesichtszügen.
     
    Ein Mann kam ihnen entgegen, typischer Fall von aristokratischer

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