Jage zwei Tiger
sich die beiden darüber, warum diese arme österreichische Hürdenlaufmaus bei den Olympischen Spielen Schrott mit Nachnamen hieß. Cecile konnte dazu nichts beitragen. Sie musste unweigerlich daran denken, wie sie sich im Alter von zwölf Jahren mit einem Hammer den rechten Oberarm zertrümmert hatte. Im viktorianischen Seitenflügel eines der fünftausend Eliteinternate, in denen sie abgestellt worden war. Tagsüber den Anschein eines Interesses an Sportveranstaltungen, Filmen, Geländespielen, Skitouren, Segeln, Theater und Exkursionen aufrechterhalten und nachts dann autoaggressive Hardcoreschübe. Sie hatte bereits damals ein vages Gefühl für die Gewaltigkeit dieser keiner sozialen Norm entsprechenden Verhaltensmuster entwickelt. Mehr als diese Abweichung schockierte sie aber die kalkulierte Unangreifbarkeit, mit der sie die Scheiße durchgezogen, also im Unterhemd vorm Badezimmerspiegel authentische Misshandlungsspuren auf ihren Arm gehämmert und sich am nächsten Morgen zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn in die Sporthalle geschlichen hatte, um die blau bis tiefschwarz angelaufene Haut, also dieses ganze gequetschte Körpergewebe, in das massenweise Blut eingetreten war, so fest mit einem Tau zu umwickeln, dass sich zentimeterdicke, tiefe Striemen abzuzeichnen begannen. Es ging ihr nicht um den Schmerz. Diese komplexe Sinneswahrnehmung verringerte sich sowieso durch den intensiven Glauben an ultimative Erfüllung durch sichtbar gewordenes Leid oder so was, Schmerz war egal und der uninteressanteste Aspekt, leider. Es ging ihr eher um den Kotzreiz im Gesicht ihres Sportlehrers. Er betrat die Halle, während sie leichtgläubigen Siebtklässlern, die sich in einem Kreis um ihre Verletzungen versammelt hatten, von einem Treppensturz erzählte. Als der Blick des Lehrers auf ihren Arm fiel, schlug er reflexhaft die Hände über dem Kopf zusammen und wurde beinahe ohnmächtig. Die Genugtuung durchfuhr Cecile mit einer Intensität, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Die Wahrnehmung ihrer Person spiegelte sich ungefiltert in der Körpersprache eines anderen wider. Rückblickend erkannte sie, dass sie in ihren Sportlehrer verknallt gewesen war. Warum auch nicht, er war ein apart durch die Gegend hüpfender Typ in Turnschuhen und hatte Ideale. Als Ceciles Mitschülerin Fiona Bruchsal wegen ihrer unter- bzw. überhaupt nicht entwickelten Brüste von den anderen monatelang »kleinster lebender Organismus« genannt worden war und plötzlich nicht mehr zur Schule kam, weil jeden Morgen ein vom Klassensprecher gebastelter Galgen an ihrem Sitzplatz hing, ließ Herr Schultheiss-Koch alle Schüler der siebten Stufe so lange nachsitzen, bis jeder von ihnen einen zweiseitigen Entschuldigungsbrief verfasst hatte, der seiner Auffassung von ehrlicher Reue entsprach. Den Kindern, die überhaupt nicht in die Hetzerei involviert gewesen waren und sich deshalb über die Aufgabe beschwerten, erklärte er lang und breit die Mechanismen des Zweiten Weltkriegs und dass stille Mitläufer einer der wichtigsten Gründe für den Tod von zehn Millionen Menschen gewesen seien. Zwei Tage später kam Fiona wieder in die Schule, eine Woche später konnte sich niemand mehr an ihren ehemaligen Status als Mobbingopfer erinnern, und ein Jahr später hatte sie endlich Titten und als Erste eine feste Beziehung, wenn auch heimlich und mit einem einundzwanzigjährigen Heavy-Metal-Typen, der Haare bis zum Arsch hatte und dem sie allen Ernstes beim Cheerleading begegnet war. Das favorisierte Urlaubsziel dieses Lehrers war Tuvalu, weil sein Lieblingsfilm so hieß. Zu Ceciles Verletzung verhielt er sich vorerst trotzdem nicht, stattdessen zog er kommentarlos die vorgesehene Doppelstunde Bodenturnen durch. Sie realisierte intuitiv, dass sie einer der Menschen war, denen man ungern half. Ohne mit der Wimper zu zucken, führte sie jede eingeforderte Handstandübung aus, was Herrn Schultheiss-Koch zutiefst überforderte. Beim Umziehen in der Garderobe ließ sie sich so lange Zeit, dass ihm keine andere Möglichkeit blieb, als sie noch vor der Pause aufzusuchen. Er fing Cecile beim Rausgehen ab, in dem Windfang des Hallenkomplexes, der in einen kleinen Wald führte, und war sichtlich erleichtert, dass sie sich inzwischen einen langärmligen Fleecepullover übergezogen hatte, dunkelbraun mit Löchern für die Daumen, so richtig kacke, aber süß, egal, Cecile mit ihren eins zweiundfünfzig jedenfalls lächelnd vor diesem Typen, souverän, wenn auch einem
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