Jage zwei Tiger
der Situation bei als die penetrante Ausstrahlung des Umstandes, seinen Schwanz nicht unter Kontrolle zu haben. Silvana schien das geil zu finden, und Kai wurde ignoriert. Er guckte während der Fahrt aus dem Fenster und versuchte sich in der Landschaft zu verlieren, die er irgendwie mochte, er war noch nie irgendwo gewesen, wo es auf diese Weise anders ausgesehen hatte. Der Roadtrip führte die drei zu einem in die Architekturgeschichte eingegangenen Kurhotel, gelegen mitten in der dunkelsten und steilsten Ansammlung von Felsvorsprüngen. Es wurde als »selbstbewusstes Ensemble von Schlichtheit und Funktionalität« bezeichnet und war letztlich nur der Inbegriff einer in archaischen Bergwelten angesiedelten kalten Bauweise. Da stand man halt momentan auch sehr drauf, auf dieses undurchschaubare Nichts, in dem jeder Ausdruck von Wärme als Kitsch gedeutet wurde. Unterhalb des Hotels gab es eine direkt in die Klippen gehämmerte Thermenlandschaft, in die Kai sich wegen seines generalisierten Angstzustands nicht reintraute. Silvana und Detlev hatten in ihrem Doppelzimmer die Taschen ausgepackt und klopften nun an Kais Zimmertür, vermutlich in Bademänteln. Kai saß stocksteif neben seiner Reisetasche auf dem Bett und sagte nichts.
»Willst du nicht mitkommen?«, fragte Detlev durch die Tür. Kai schämte sich vor Silvana für seine Angst und bekam kein Wort heraus. Die beiden gingen ohne ihn schwimmen, und er verbrachte den Tag in seinem Zimmer, guckte sich durchs Fenster die steilen Felswände an und rettete sich in das detailgenaue Ausarbeiten von Plänen, den Zirkus wiederzutreffen. Er wusste nicht mal den Namen der Familie, geschweige denn, in was für einem wie weit entfernten Kaff sie sich gerade aufhielt, aber in seiner Vorstellung kam es ihm vor, als müsste er nur noch ein bis zwei Tage warten und das Elend hätte ein Ende, weil er irgendwo in der von Nazihäusern gesäumten Serpentinenstraße plötzlich das Zelt wiedererkennen würde.
Erst zum Abendessen verließ er sein Zimmer. Silvana warf Detlev zwischen zynischen Analysen der weiteren Gäste ein paar Blicke zu, die darauf anspielten, dass Kai die Hälfte seines Bestecks keiner natürlichen Bestimmung zuordnen konnte. Als Kai aufs Klo gehen wollte, folgte Detlev ihm, fasste ihn kurz vor den Toilettenräumen an der Schulter und drehte ihn zu sich um.
Er stammelte unverständliches Zeug herum, das Ganze schien ihn auf eine Art Zerreißprobe zu stellen.
»Was willst du? Soll ich was anderes anziehen morgen?«, fragte Kai. »Ich hab nichts Besseres.«
Detlev guckte lange auf den Boden.
»Ach Scheiße, Quatsch, sie hat nen Knall, du siehst fantastisch aus.«
»Ich will nach Hause«, sagte Kai. »Richtig nach Hause. Ich meine nicht München oder die Wohnung oder das alles. Ich will nach Hause. Ich will einfach nur nach Hause.«
Detlev tätschelte ihm den Kopf und geleitete ihn dann zurück zum Tisch, wo gerade irgendein an Champagner vorbeigetragenes Himbeersorbet serviert wurde. Die drei fuhren anderthalb Wochen lang durch die Gegend, gerieten in weirde Situationen, wurden an der Pizzabude von einem Fotografen mit Hasenscharte auf Schmerzensgeld verklagt, der, ohne zu fragen, Silvanas Schultertattoo fotografiert und dem Detlev daraufhin ins Ohr gepfiffen hatte. Der Fotograf warf sich auf den Boden und schrie mehrmals hintereinander, dass er jetzt einen Tinnitus habe. Sie fuhren nach Locarno. Silvana erzählte, wie ihr Verlobter mal vierzig Grad Fieber gehabt hatte und sie aus Langeweile ihren Exfreund anrief, um auf dessen im Lago Maggiore angebundener Yacht zwei Wochen lang Sex zu haben. Man ging schwimmen und unterhielt sich über Hautunreinheiten. Der durchaus absurde Trip muss nicht bis ins letzte Detail rekonstruiert werden. Wir können an dieser Stelle aufhören, so zu tun, als hätte die Menschheit einige ausschließlich an Zerstörung interessierte Arschlöcher hervorgebracht. Konkret wird es erst jetzt, und zwar als Silvana auf dem Rückweg von der italienischen Grenze nach Zürich beschloss, kurz auf dem Anwesen ihrer Familie vorbeizufahren, die im Tessin auf einem Grundstück lebte, dessen Wert sich innerhalb der letzten acht Jahre halbiert hatte, weil es mittlerweile zwischen einem Tierkrematorium und der Jugendpsychiatrie stand. »Mein Vater ist nach Kuba ausgewandert, trägt ein Monokel und isst dreimal wöchentlich Gehirn«, sagte Silvana. Über ihre Mutter erzählte sie, dass sie eine Art konfessionslose Märtyrerin gewesen sei. »Auf
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