Jage zwei Tiger
dunkel.
Zwei Umrisse kamen winkend auf sie zu, und Kai sah, wie Detlevs Anspannung in Erleichterung umschlug. Er begann zu checken, um was es hier ging: eine breithüftige Mittdreißigerin, die Silvana hieß und aussah wie eine bourgeoise Nagelstudiobesitzerin, blond, dünn, ein bisschen mit Kunst zu tun und offenbar auf mehreren Edelgestüten aufgewachsen. Sie fiel Detlev in die Arme, nahm Kai kurz zur Kenntnis, sagte aber nichts zu ihm und stellte dann den dicken, freundlichen Mann hinter sich als ihren Verlobten vor. Der Verlobte, er hieß Friedhelm, klopfte Kai auf die Schulter und fragte ihn auf der Taxifahrt nach seinen Hobbys. Kai hatte keine. Detlev und Silvana tauschten vulgäre Scherze aus, und als Kai gerade lügen wollte, dass er mal in der Badminton- AG gewesen sei, unterbrach ihn der Verlobte, zog ihn zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Sei dir bitte im Klaren darüber, dass du hier gerade zu einem Alibi gemacht wirst.«
»Zu einem Alibi?«, fragte Kai.
»Ja. Zu einem Alibi. Für die Fickaffäre deines Vaters und meiner zukünftigen Frau. Getarnt als Charityurlaub für ein armes kleines Kind, das gerade seine Mutter verloren hat. Ich will, dass du das weißt, und ich will auch, dass du weißt, dass ich das weiß. Ich mag dich, du magst mich, wir werden die Scheiße in Würde hinnehmen.«
Kai schluckte.
»Silvana ist ziemlich abgefuckt. Dein Vater vermutlich nicht minder. Wobei man fast nicht mehr von abgefuckt sprechen kann, eher von schizoidem Grundzustand. Doch wir beide, du und ich, sind im Selbstwiderspruch lebende, schlaue Menschen, die aus derartigen Tragödien mehr ziehen als nur Erfahrungswerte.«
Kai schluckte noch mal und kratzte sich an der Stirn.
»Hast du dich schon mal mit Soulmusik aus den Siebzigern beschäftigt? Den ganzen Backgroundsängern, die in ihrer Freizeit Soloplatten aufgenommen haben? Zugegebenermaßen erinnern die meisten Songs zu Anfang sehr unangenehm an Whitney Houston, aber dann entwickeln sie sich zur selbstbewussten Einforderung dessen, was einfach niemand mehr hinkriegt: Soothe me. Weißt du, was das heißt auf Deutsch?«
Kai schüttelte den Kopf.
»Beruhige mich.«
Der Verlobte lächelte und streckte Kai seine Handfläche entgegen, um sich von ihm abklatschen zu lassen.
Erst als sie im Fahrstuhl des Townhouse standen, auf dem sich ihr Penthouse befand, wandte Silvana sich Kai zu.
»Siehst du das hier, Kai? Den Knopf, den ich gerade gedrückt habe?«
Sie sprach mit ihm wie mit einem Vierjährigen, den Finger auf das »DG« der Fahrstuhlknopfanzeige gerichtet. Kai nickte skeptisch. »Und was glaubst du, wo wir jetzt hinfahren?«, fragte sie. Ihre Stimme war irre rau, ihre Haut braun, ihr Style wohl als sportlich zu bezeichnen.
»Ähm, ins Dachgeschoss?«, antwortete Kai.
Silvana seufzte und sagte: »Schade, mein Patensohn ist genauso alt wie du und hätte jetzt ›Dolce und Gabbana‹ geantwortet.«
Die Wohnung war leer und von einer Marmorterrasse umgeben. Tierfelle auf Parkett zu durchsichtigen Philip-Stark-Stühlen. Der zu Hause gebliebene schlecht erzogene Dobermann hatte auf einen für 30.000 Euro in Tibet gefärbten Teppich gepisst, der nun zur einzigen mit dieser Art von Textilien vertrauten Reinigung nach England transportiert werden musste. Kai schlief mit seinem Vater in einer Art Gästesuite und fragte ihn, wie lange sie bleiben würden. »Keine Ahnung«, sagte Detlev. Die folgenden zwei Tage verbrachten sie zu viert in Restaurants, vor dem Fernseher und in Kunstausstellungen. Kai stand vor monumentalen Kuben aus zu einer Schichttorte gestaltetem Sägemehl und konnte nicht verstehen, warum Silvana sie als »verletzlich schön« bezeichnete. Ihm war so langweilig, dass er, ohne Bescheid zu sagen, in eine Videospielhalle ging und dort drei Stunden Zombies killte. Es war schon dunkel, als er zurück zum Townhouse kam. Niemand wirkte, als hätte man sich Sorgen gemacht. Während des kompletten Abendessens hatte Kai den unmittelbaren Impuls, mit gedrückten A - und B -Tasten eines Joysticks Silvana abzuknallen. Er hielt die kollektive Angst vor schlechtem Einfluss durch Ballerspiele plötzlich zum ersten Mal in seinem Leben für angemessen und saß am nächsten Tag in einem Retrojaguar, mal wieder ohne zu wissen, warum. Der Verlobte, der irgendwas mit Hedgefonds machte und deshalb nicht mitkommen konnte, verabschiedete Kai mit dem Satz, dass die Schweiz für traurige junge Menschen genau das Richtige sei. Sein Vater trug nichts zu
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