Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
Vom Netzwerk:
bestimmt. Aber ich glaube, sie kann das halt einfach nicht so gut zeigen.«
    Julia fuhr ihm durch die Haare, währenddessen sah sie panisch zu Cecile. Cecile zuckte mit den Schultern und hakte sich an Arams anderer Seite ein. Dann kauften sie im Supermarkt drei Packungen Toast und Billiggouda.
     
    Das sogenannte Elternhaus von Mike befand sich am Stadtrand und war ein heruntergekommener ehemaliger Bauernhof. Cecile wurde von jemandem, dessen Funktion sie nicht kannte, dazu aufgefordert, ein neugeborenes Kälbchen zu benennen. Sie sah es und wusste, dass es Marianne heißen musste, hatte aber keine Ahnung, warum. Was sie nicht wusste, war, dass es sich in zwei Wochen als Junge rausstellen und wegen seines Namens für den Rest seines Bullenlebens von Mikes Brüdern als Schwuchtel bezeichnet werden würde.
    Neben dem Kamin in der Stube, der offensichtlich seit Jahren nicht benutzt worden war, stand ein Fernseher, in dem eine DVD mit Kaminfeuer-Visuals lief. Mikes Eltern waren niedlich, aber wie die Ausgeburt von Kleinbürgerlichkeit. In einer braun gefliesten Küche wurden Kaffee und Kuchen serviert. An den Wänden hingen gestickte Bilder von Landschaften. Die Mutter erzählte stundenlang vom Tod ihres Hundes und wie sich die Katzen zu einer Art Abschiedszeremonie im Kreis um seine Leiche versammelt hatten. Irgendwann brach aus Mike die nicht sonderlich gefühlvoll formulierte Aussage hervor, dass er auf dem Weg nach Italien sei und sich verabschieden wolle, woraufhin seine Mutter hysterisch zu schluchzen begann und sein Stiefvater einen aus Fernsehserien übernommenen Wutausbruch fakte. Er stand auf, raufte sich mit dem Rücken zu ihnen die Haare, drehte sich etwas zu schnell wieder um und schrie etwas, das bedeuten sollte, dass Mike ohnehin der nutzloseste der Jungs gewesen sei und er sich nicht mehr zu blicken lassen brauche, wenn er jetzt gehe. Mike stand auf, sah sich verwirrt um und ging. Die anderen folgten ihm und murmelten verhaltene Verabschiedungsfloskeln. Auf der Fahrt redete er noch weniger als sonst, genau genommen gar nicht, und guckte phlegmatisch aus dem Fenster. Cecile meinte das nicht böse, hielt ihn aber wirklich für dumm. Sobald sie in sein Gesicht blickte, sah sie, was in seinem Gehirn abging – im Kreis laufende Entchen, die »dumdidum« sangen, ab und zu unterbrochen von einem Cheeseburger. Sie hörten »Eleanor Rigby« von Ray Charles auf Repeat, nach zwei Stunden konnten alle den Text und sangen mit, sie öffneten die Fenster und das Schiebedach, lehnten sich raus wie in Neunziger-Jahre-Filmen und winkten den Leuten auf der Straße bei einer Songzeile, in der es um die Frage ging, woher all die einsamen Menschen kämen, hysterisch zu. Irgendwann legte Mike seinen Arm um Cecile und fragte, woran sie gerade dachte. Cecile antwortete, »ehrlich gesagt, an Hermès-Aschenbecher«, und Mike nahm seinen Arm wieder weg.
     
    Es war bereits dunkel, als sie in einer kleinen Stadt im Schwarzwald ankamen. Aram parkte den Wagen an dem die Wohnsiedlung vom Stadtpark abgrenzenden Grünstreifen, und alle stiegen aus. Julia lief voraus, es war finster, und sie war erst einmal hier gewesen, behauptete aber, genau zu wissen, wo sie lang müssten. Je näher sie auf die zweistöckigen, mit Weihnachtslichterketten überladenen Neubauten zukamen, desto weniger konnte Cecile glauben, wie rabiat ein sozialer Abstieg aussehen konnte. Obwohl es sich gewissermaßen um ihren eigenen handelte, schien es Julia ähnlich zu gehen. Während sie in einigen Metern Abstand zu den anderen nach der richtigen Hausnummer suchte, schüttelte sie ab und zu ungläubig den Kopf, als verstünde sie erst jetzt, wie groß der Unterschied zwischen mehreren Villen und einer einzigen, vom Jugendamt finanzierten Dreizimmerwohnung am Arsch der Welt sein konnte. Und als begriffe sie erst jetzt, dass das, was sie mal Zuhause genannt hatte, bloß eine Illusion gewesen war.
    Als sie den Hausflur zu einem der Gebäude betraten, dachte Cecile an den Eingangsbereich der Ferienvilla in Südfrankreich, in die Julia sie, als sie in der siebten Klasse waren, in den Sommerferien mitgenommen hatte. Sie dachte daran, wie Julias Mutter den beiden von einer sieben Meter hohen Galerie aus zugewinkt hatte, eine Zigarette in der einen, ein Einrichtungsmagazin in der anderen Hand, und dass sie gewirkt hatte, als wäre sie erstens gerade einem französischen Film entsprungen und zweitens unverletzbar, für alle Ewigkeit.
    Dann machte jemand die Tür auf, und zwar

Weitere Kostenlose Bücher