Jage zwei Tiger
ein vierzehnjähriges, äußerst debil wirkendes Mädchen in gestonewashten, etwas zu weiten Röhrenjeans, mit zwei schwarz gefärbten Strähnen, die ihr seitlich am Gesicht herunterhingen. Es lächelte, sagte nichts und hüpfte dann mit zwischen ihren Beinen eingeklemmten Händen vom Flur aus ins Wohnzimmer, um sich da vor den Fernseher auf den Boden fallen zu lassen. Julia kratzte sich am Kopf, ihre Mutter rief aus einem uneinsehbaren Raum, es schien sich um die Küche zu handeln, sie habe gerade was auf dem Herd stehen und komme gleich, und nachdem sie alle eine Weile lang auf den violetten Teppichboden im Flur gestarrt hatten, gingen sie ins Wohnzimmer und sahen sich um.
Ab und zu wurde die rudimentäre Einrichtung von einem Überbleibsel aus besseren Zeiten durchbrochen, dem Mahagonitisch, der für den Raum viel zu groß war, der Vitrine mit ausgefallenen Cocktailgläsern und einem echten Damien Hirst an der Wand, der früher auf einem Gästeklo gehangen hatte, das doppelt so viele Quadratmeter gehabt hatte wie die komplette Wohnung. Alexandra sah sich das Bild lange an, aus verschiedenen Positionen und Entfernungen, und als Cecile sie gerade darauf ansprechen wollte, ob sie sich für Kunst interessiere, sagte sie plötzlich: »Krass, man sieht ja voll dünn aus da drin.«
Das vierzehnjährige Mädchen kniete regungslos vorm Fernseher, es lief eine Dokumentation über Wirbelstürme, und tat so, als bemerkte es die anderen nicht. Dann kam Viktoria, Julias Mutter, ins Zimmer. Sie schien zwar innerhalb kürzester Zeit um fünfzehn Jahre gealtert zu sein, sah aber super aus, weil sie strahlte. Sie fiel ihrer Tochter in die Arme. Jedem ihrer Freunde gab sie die Hand, ohne zu fragen, warum die überhaupt mitgekommen waren. Den Style absoluten großbürgerlichen Charmes hatte sie noch immer drauf. Sie lachte auf eine Weise, die Mike überforderte, weil er so etwas nur aus alten Filmen kannte, und trug ein elfenbeinfarbenes Kleid in Leinen-Optik, mit über Kreuz laufenden Drapierungen. Mike wurde rot, er konnte es nicht fassen. Es fand hier eine Art Widerspruch statt, den er noch nicht denken konnte, jedenfalls versteinerte plötzlich seine Miene und er streckte ihr, ohne etwas sagen zu können, eine Sektflasche entgegen, die von seinen eigenen Eltern verschmäht worden war. Daraufhin sagte sie nur: »Lass mal, so ein kleiner Rückfall zur Vorweihnachtszeit wär zwar cool, aber anstrengend.«
Julia sah die anderen an und zuckte mit den Schultern, das Alkoholproblem ihrer Mutter hatte sie wohl zu wenig ernst genommen, als dass sie jemandem im Vorhinein davon hätte erzählen wollen. Zu Cecile sagte Viktoria einfach nur, sie sehe ziemlich scheiße aus – wahrscheinlich, weil sie in Prospekten über Magersucht gelesen hatte, dass man den Betreffenden niemals zu verstehen geben sollte, wie dünn oder besorgniserregend sie wirkten. Cecile war oft genug konfrontiert worden mit den psychologischen Herangehensweisen Angehöriger und nahm das Statement deshalb nicht zur Kenntnis. Nach zwei Sekunden freuten sich beide aufrichtig, einander zu sehen.
Weil das Mädchen vorm Fernseher nicht reagierte, obwohl Julias Mutter sie bereits mehrmals dazu aufgefordert hatte, Hallo zu sagen, ging sie zu ihr, packte sie unter den Achseln, hievte sie hoch und setzte sie zu Julia und ihren Freunden gedreht wieder ab. Das Mädchen grinste verlegen. In seiner Drogenvergangenheit schienen wirklich sämtliche Gehirnzellen draufgegangen zu sein, dachte Cecile, und die anderen dachten dasselbe.
»Sorry, wir wollten dich gar nicht stören«, sagte Julia zu dem Mädchen. Danach gab sie ihrer Mutter mit einer komplizierten Geste zu verstehen, dass sie mal mit ihr reden müsse, und die beiden gingen zusammen ins Schlafzimmer. Die Wohnung war so hellhörig, dass die anderen alles, was da drin abging, hören konnten. Sie guckten sich schweigend mit dem Mädchen die von RTL zusammengeschnittenen Flops und Tops der Woche an, Madonna hatte sich bei ihrer Tour ausgezogen, und irgendwer anders hatte eine kleine Seerobbe aus dem Wattenmeer gerettet. Währenddessen wurde im Nachbarzimmer etwas zu engagiert Wäsche in Schränke gehängt. Julia begann mehrere Male hintereinander einen Satz zu formulieren, brach ihn allerdings jedes Mal vorzeitig ab. »Was ist los?«, fragte ihre Mutter dann irgendwann und ließ den Wäschekorb auf den Boden fallen. Und Julia erklärte detailliert, dass sie weggehen würde und warum.
Nach einiger Zeit kamen sie Hand in Hand
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