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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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schnell wie möglich das Dorf verlassen sollten. Noch am selben Abend kamen wir in Istanbul an, wo wir in einer Bar vor lauter Schreck und Glück darüber, nicht geköpft worden zu sein, mehrmals hintereinander die Geschehnisse Revue passieren ließen und sie bei jedem Mal extremer ausschmückten. Am Nachbartisch saß eine Türkin in unserem Alter, die drei Jahre in Deutschland Architektur studiert hatte und deshalb ein Gespräch über Jefferson Airplane mit uns anfing. Sie wurde relativ schnell zu meiner besten Freundin. Sie hieß Remzie und konnte Karate. Weil wir nichts Besseres zu tun hatten, fuhren wir mit Remzie in das Dorf, in dem ihre Großmutter lebte. Lehmpfade, Teppiche, es gab viele Schildkröten. Ich und der Junge schleuderten uns bei fast jedem Sonnenuntergang die unglaublichsten Liebesschwüre entgegen. An irgendeinem Nachmittag saßen wir zu sechst, also wir vier westdeutschen Hippiekinder, Remzie und ihre Großmutter, im Außenbereich eines Restaurants. Einige Meter von uns entfernt lag ein kleiner dreibeiniger Hund in der Sonne, der uns die ganze Zeit über ansah. Dieser Hund war irre cool und folgte uns den kompletten Tag lang überallhin. Wo immer wir uns niederließen, setzte er sich in unsere Nähe, selbstverständlich mit gebührendem Abstand und nicht im Geringsten anbiedernd. Irgendwann gingen wir zu unserem Auto, um ins Nachbardorf zu fahren, und der Hund rannte dem Auto wie verrückt hinterher, bis er am Horizont verschwand und wir ihn nicht mehr sahen. Zwanzig Minuten später kamen wir an, weitere fünfundvierzig Minuten nach uns plötzlich der Hund, völlig außer Atem, als hätte er uns als neues Rudel auserkoren. Es war unglaublich. In dem Moment, in dem wir beschlossen ihn zu behalten, kam ein Pick-up vorbeigefahren, und ein Mann stieg aus, um den Hund einzusammeln. Wir konnten nichts tun. Und mein Freund, man höre und staune, heulte zwei Tage lang durch deshalb. Wir blieben fast ein halbes Jahr in der Türkei. Und taten nichts anderes als kiffen, ficken und rumfahren. Ehrlich gesagt, war das die beste Zeit meines Lebens.«
    Dann schwieg sie. Alle warteten darauf, dass sie weitererzählte, das tat sie aber nicht.
    »Und dann?«, fragte Mike. »Haben Sie ihn geheiratet?«
    Julias Mutter lachte. »Geheiratet? Um Gottes willen, nein. Geheiratet hab ich zehn Jahre später, und zwar jemanden, der ein bisschen zu früh gestorben ist, shit happens.«
    Sie griff nach der Fernbedienung und machte die Glotze wieder an. Fünf Minuten lang starrte sie da rein und dann plötzlich unvermittelt in Julias Gesicht.
    »Egal, was passiert, egal ob du jemanden ermordest oder dein Boyfriend zur Mafia geht oder du schwanger wirst oder heroinabhängig, du kannst immer wieder zurückkommen, bitte merk dir das. Immer. Ich erwarte nichts. Zieh deinen Scheiß durch, ich weiß, dass du das hinkriegst, probier alles aus, meld dich nicht zu oft bei mir, und komm zurück, wenn du nicht mehr kannst. Ehrlich gesagt hätte nichts Besseres passieren können, oder? Stell dir vor, du wärst eins von diesen verwöhnten Yuppiekindern geworden, das zum achtzehnten Geburtstag keine Freiheit, sondern nen Karibikurlaub geschenkt kriegen will, o Gott, ich würde dich hassen.«
    Dann lachte sie, und Julia fiel ihr in die Arme und fing an zu heulen. Cecile fing auch an zu heulen. In das Zimmer von Julias kleinem Bruder, der gerade beim Footballtraining war, stellten sie zum Abschied Arams alte Hantelbank. Als sie die Wohnung verließen, wurden sie alle gleichermaßen energisch von Viktoria umarmt, Cecile und Julia heulten noch immer und würden damit auch die folgenden zwei Stunden nicht mehr aufhören, und Alexandra sagte, dass das hier eine Reise für junge Leute sei, dass sie sich für heute Nacht ein Hotelzimmer und am nächsten Morgen den ersten Zug zurück nach Worms nehmen würde. Sie fragte, ob sie in Arams Zimmer einziehen dürfe, der »Klar« antwortete, sie auf die Stirn küsste und plötzlich auch anfing zu heulen, aber wirklich komplett ohne zu wissen, warum, und alle mussten lachen.
     
    Nachdem sie Mikes bei einer Tombola gewonnenes, wie ein VW -Bus angemaltes Fünfpersonenzelt aufgebaut hatten und Julias Anorak in der Gaskocherflamme Feuer gefangen hatte, nachdem sie alle unter einem verhangenen Sternenhimmel eingeschlafen und am nächsten Morgen weitergefahren waren, in einer Raststätte Spiegelei auf Brot mit Reis gegessen hatten, ohne zu bezahlen, abgehauen waren und danach statt Ray Charles plötzlich

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