Jage zwei Tiger
zurück ins Wohnzimmer, wischten sich mit exakt derselben genetisch bedingten Geste die Tränen aus dem Gesicht und setzten sich zu den anderen. Viktoria forderte das Mädchen auf, den Fernseher auszumachen und in ihr Zimmer zu gehen, was es mal zur Abwechslung reibungslos auszuführen schaffte. Dann atmete sie tief durch und zündete sich eine Zigarette an.
»Und ihr zieht also alle zusammen nach Italien jetzt?«
Stille.
»Okay, andere Frage: Will eigentlich irgendjemand von euch was essen oder so?«
Alle schüttelten ihre gesenkten Köpfe.
»Habt ihr Durst? Oder müsst ihr aufs Klo?«
Wieder Kopfschütteln.
»Na gut«, sagte sie dann. »Italien ist ein ganz guter Ort für Menschen, die sich in eurer Situation befinden. Nicht, dass ich mir das Recht rausnehmen würde, eure Situation vollständig zu beurteilen, aber ich gehöre inzwischen zu den Leuten, die sagen können, sie waren auch mal jung. War ich halt wirklich. Und Kapitalismus ist Bullshit. Schon immer gewesen. Als ich so alt war wie ihr, habe ich meinen Eltern als Weihnachtsgeschenk Karl Marx mit Kugelschreiber skizziert. Ich konnte nichts, was mit dieser Frühform von Kapitalismus kompatibel gewesen wäre. Und für den Rest meines Daseins im Lebensmittelladen meiner Eltern abgelaufene Milchprodukte in eine große Schüssel zu füllen und als frischen Bauernjoghurt zu verkaufen – nein, das hätte ich nicht hingekriegt. Irgendwann saß ich in unserer Küche, aß etwas, was mir nicht schmeckte, und beschloss, mir einen Freund zu suchen. Es war ein Junge, der etwas älter war als ich und bei uns im Hinterhaus lebte. Er war Krankenpfleger auf einer Art Palliativstation der Psychiatrie. Ich hielt mich für eine große Denkerin. Deshalb führten wir eine, wie nennt man das – vorrangig sexuelle Beziehung.«
An dieser Stelle nickte Mike sehr ergriffen. Aram ließ sich tiefer in seinen Sessel fallen und wirkte, als würde er gerade Titanic gucken und auf das Auseinanderbrechen des Schiffes warten. Julia schämte sich ein bisschen. Alexandra warf zwischendurch immer mal wieder einen Blick auf das zum Spiegel umfunktionierte Damien-Hirst-Bild. Cecile wollte einfach nur wissen, wie es weiterging.
»Wenn ich mit meinem Philosophiekram ankam, schnallte er total ab und verließ den Raum«, fuhr Viktoria fort, »aber ich war wahnsinnig verliebt in ihn. Eines Tages eröffnete er mir, dass er am nächsten Tag mit einigen Freunden nach Gomera fahren würde, woraufhin ich mich zu Tode beleidigt in meinem Zimmer einschloss und dort sechs Tage durch heulte. Am siebten Tag kam jedoch eine Postkarte mit der Aufforderung, ihn auf Gomera zu besuchen. Ich stürzte mich in den finanziellen Ruin, indem ich mir ein Flugticket kaufte und zu ihm raste, mit einem Schlafsack, einem Wörterbuch und einem einzigen, ungewaschenen Kleid. Wir verbrachten eine tolle Zeit, frönten der Zweisamkeit, sehr exzessiv und eigentlich total hingerissen voneinander. Nach einer Woche Sex und Strand beschlossen wir, gemeinsam mit zwei seiner Kumpels und einem gebraucht gekauften Schrottauto, in die Türkei zu fahren. In einem kleinen, in den Bergen gelegenen Städtchen, in dem wir uns altmuslimische Festungen angesehen und danach ziemlich besoffen hatten, wurden wir plötzlich verhaftet. Wir mussten auf einem Strich laufen und mit dem linken Zeigefinger unsere Nasen berühren. Danach wurden wir in einen Keller geführt und erkennungsdienstlich in irgendeine Kartei aufgenommen. Es stellte sich heraus, dass uns ein Einheimischer, mit dem wir uns in einer Bar unterhalten hatten, wegen Spionage und Antiquitätendiebstahl angezeigt hatte. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum. Der Hauptgeheimbulle, vermutlich der Polizeichef, erlaubte uns zwar, die Nacht in unserem Hotel zu verbringen, schlief aber vor der Zimmertür auf dem Boden, damit wir nicht fliehen konnten. Am nächsten Tag brachte er uns in Handschellen zu unserem Prozess. Auf dem Weg durch das Gerichtsgebäude sahen wir, wie ein zehnjähriger Junge von fünf erwachsenen Männern verprügelt wurde, da er sich angeblich in irgendeiner schamverletzenden Weise der Öffentlichkeit gezeigt hatte. Wir rechneten damit, dass uns dasselbe passieren würde. Stattdessen wurden wir die ganze Zeit nur gefragt, wie viel ein BMW kostet. Zwei Stunden später erklärte uns ein Gerichtsdiener, der den kompletten Prozess über Kohlen in einen Kanonenofen hatte schmeißen müssen, dass wir freigesprochen worden waren und wegen zu erwartender Selbstjustiz so
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