Jage zwei Tiger
aus dem Gesicht gewischt hatte. An der Rezeption fragte sie nach dem zweiten Schlüssel für Zimmer 347, weil sie gesehen hatte, dass es keinen vierten Stock gab, und als der Rezeptionist, statt den Schlüssel zu holen, skeptisch in das Belegungsbuch sah und nach ihrem Namen fragte, fügte sie lächelnd »Fioravanti« hinzu und dass sie die Tochter sei. Er gab ihr die Schlüsselkarte. Sie fuhr in den dritten Stock und suchte nach dem Zimmer. Sie schloss es auf, die Vorhänge waren nicht zugezogen, weshalb ihr die Sonne brutal entgegenschien und Cecile sich die Hand vor die Augen halten musste. Irina lag schnarchend und ohne sich umgezogen zu haben auf der Fensterseite des Kingsize-Betts, es roch ein bisschen nach Erbrochenem. Zwei Zimmer, Jugendstilmöbel, verspiegelte Decken, Holzboden und eine freistehende Badewanne, die den schwarz gefliesten Waschbereich vom Rest der Suite abtrennte. Über dem Stuhl am Schreibtisch hing das Missonikleid, von dem Julia erzählt hatte. Cecile zog sich ihr Oberteil aus und legte sich mit dem Rücken zu Irina ins Bett. Zwanzig Minuten später legte Irina im Halbschlaf ihren Arm um Cecile. Und als Irina wach wurde, küsste sie sie komplett unirritiert von hinten auf die Wange, weil sie sich an zu wenig erinnern konnte. Die einzige plausible Möglichkeit, weshalb das Mädchen neben ihr lag, war, dass sie es mitgenommen hatte. Cecile tat, als würde sie aufwachen, obwohl sie keine Sekunde geschlafen hatte. Sie lächelte und drehte sich zu Irina, die ihren Kopf aufstützte, ihr ins Gesicht sah und ein paar Strähnen hinters Ohr strich. »Hast du Angst?«, fragte sie. Unter normalen Umständen hätte Cecile einer Person, die ihr in solchen Zusammenhängen eine derart beknackte Frauge stellte, eine reingehauen. Stattdessen sagte sie gar nichts und wich Irinas Blick aus, weil sie wusste, dass das funktionieren würde. »Du hast Angst«, sagte Irina und setzte sich auf Ceciles Bauch, sodass sie von oben auf sie runtersehen konnte. Sie beugte sich über sie und fragte, ihr Mund war nur einige Zentimeter von ihrem Kinn entfernt, ob sie gehen wolle. Cecile schüttelte den Kopf. »Bist du sicher?«
Cecile schloss die Augen, spürte die Bonellfederkernmatratze unter ihrem Rücken und den exzellent geschliffenen Vierkaräter an Irinas kleinem Finger, der so viel wert war wie eine Villa am Stadtrand. Sie machte die Augen wieder auf und ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen. Auf dem Nachttisch sah sie neben dem Rest des von ihr verkauften Kokains ein prallgefülltes Portemonnaie und den Roman La Noire Idole von Laurent Tailhade liegen, in dem es um morphiumabhängige Frauuen im Paris der zwanziger Jahre ging. Dann nickte sie.
16
Am Morgen des 18. Februars wachte Cecile zum fünfzehnten Mal neben Irina auf, am Ostufer des Starnberger Sees in der Nähe von München, sechs Grad draußen, durch einen Spalt zwischen den Vorhängen sah sie durch meterhohe Fenster die Äste eines halbtoten Kirschbaums. Irina lag exakt so neben ihr, wie der italienische Regisseur Visconti der Sentimentalität des Filmplots wegen eine »schlafende Schönheit« inszeniert hätte. Sie war hübsch, schlau, hatte den Humor eines 60-jährigen sexsüchtigen Philosophieprofessors und Geld; sie war, die Beklopptheit des Terminus sei an dieser Stelle kurz ausgeklammert, »eine Nummer zu groß« für Cecile. Cecile wusste das. Und stellte allmählich fest, dass Irinas Überlegenheit der einzige Grund dafür war, so schnell wie möglich von ihr wegzuwollen.
Sie dachte an Madonna. An das Konzert, auf dem sie mit Irina gewesen war, und wie sie nach zwanzig Minuten von der Sitztribüne in den Stehbereich hatte springen müssen, mit Tränen, die ihr das Gesicht runterliefen, weil das, was Madonna auf der Bühne tat, auf sie wie der allumfassendste Gottesdienst der Menschheitsgeschichte wirkte. Der ganze makrobiotische und schönheitschirurgische Quatsch schien sich in diesem speziellen Fall ausgezahlt zu haben, Madonna sah gut aus und performte auf einem nie dagewesenen, selbstgeschaffenen Level von Erhabenheit. Dass Popjournalisten von Mitte dreißig diesen Vorgang mit dem Slogan »Sie altert nicht in Würde« neutralisierten, konnte Ceciles Meinung nach nur mit einem kleinbürgerlichen Willen zur Harmlosigkeit zusammenhängen, Madonna quetschte sich nicht zur Negierung eines Alterungsprozesses in ein Cheerleaderkostüm, sie definierte den Begriff des Cheerleaders neu. Mit dem auf riesigen LED -Videoleinwänden
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