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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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projizierten Remake des Skandalvideos zu »Justify My Love« versuchte sie nicht an alte Provokationserfolge anzuknüpfen, sondern verhielt sich stilvoll, extrem direkt und schlau zu der von ihr unter Beweis gestellten Tatsache, dass man sich gleichzeitig auf der Höhe seiner Entwicklung befinden und trotzdem kritisieren konnte, wie totlangweilig eine Gesellschaft war, die zu Vereinzelungstendenz, zerstörerischer Tugendhaftigkeit und dem Tragen skandinavischer Unisexmode neigte. Wenn sie zum Song »Gang Bang« mit Pumpguns ins Publikum bzw. auf einen Tänzer ballerte, war das keine naive Kleinkindanspielung auf Tarantinofilme, sondern eine Bezugnahme auf die zuvor performte Folklore-Katholizismusversion des Songs »Girls Gone Wild«.
    Cecile dachte daran, wie sie auf den Knien zum Heiligen Geist betete, an die überdimensionale Weihrauchaction, die Tänzer in Mönchskutten, die Gleichzeitigkeit von Dunkelheit und Größenwahn eines religiösen Rituals und wie die Umrisse von Madonna in einem durch Schattenwände abgetrennten Beichtstuhl zuerst wie die der Heiligen Maria ausgesehen hatten, dabei trug sie eine Burka und eine Maschinenpistole, mit der sie zwanzig Sekunden später die Kirchenfenster einschlug.
    Es ging um die gottverdammte Widersprüchlichkeit des Menschen. Um die Tatsache, dass Jesus für uns und unsere Sünden gestorben war. Und um Erlösungsstrategien, die in jedem Menschen und in der Sinnlosigkeit unserer Existenzen verborgen lagen. Es ging nicht um ein bestimmtes Jahrzehnt, eine bestimmte Generation oder gar um eine Grenze zwischen Generationen – es ging um die Auflösung von Grenzen. Zwischen Geschlechtern, zwischen Arm und Reich und Alt und Jung und Gut und Böse. Es ging um Madonna und alle, die sich ebenfalls von vorgegebenen Strukturen befreien mussten und in dieser Freiheit jetzt auf der Suche nach Liebe und Identität jenseits der biologischen Festlegung, nach Vertrauen und Geborgenheit jenseits restriktiver Moralvorstellungen waren. Man konnte Madonna keine Gewalt antun, sie schwieg in einer mit Verantwortungslosigkeit gekoppelten Geduld, und das war eine Art Tornado, der Cecile in eine Wüste verwandelt hatte. Bestand gerade irgendein Bedarf an Gefühlen? Was konnte aus Cecile für irgendwen anders entstehen?
    Und so hatte die ganze Prozession dann auch geendet. Mit langanhaltendem Glockengeläut, das Stadion wurde dunkel, minutenlang, der Gottesdienst schien vorüber zu sein, und die ersten sogenannten Fans verließen schon den Saal, als zu enormem technischen Aufwand plötzlich das ganze Drama vergessen war, das Licht wieder anging und die komplette Company zurück auf die Bühne kam, um »Celebration« zu performen. Hysterisches Rumgehopse. Und die eindeutige brutale Aufforderung, mal wieder auszugehen.
     
    Dann schreckte Cecile hoch, weil sie hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür umdrehte. Sie wurde panisch und sah zu Irina, die von ihr weggedreht unfassbar regelmäßig atmete und eine weiße Schlafbrille trug. Die Tür ging auf, und jemand trat ein. Kurz dachte sie, dass es Irinas Mann sein könnte, der ihr das Haus gekauft hatte wie König Ludwig seiner Marie Antoinette damals das Hameau de la Reine, aber genau aus diesem Grund hatte er eigentlich auch keine Berechtigung herzukommen, schon gar nicht morgens um acht. Cecile fasste Irina am Arm, sagte mehrmals ihren Namen und, als sie langsam aufzuwachen schien, den tollen Satz: »Die Haustür, hier ist jemand!«
    Ohne ihre Schlafbrille abzunehmen, antwortete Irina: »Ist egal, das ist Jutta«, woraufhin Cecile fragte, wer zur Hölle Jutta sei, und Irina von zwei Hartz- IV -Frauen erzählte, die früher beide Krankenschwestern gewesen waren und täglich dreimal einen ihrer beiden Kater an der Flexileine spazieren führten. Der Kater gerade auf der Fensterbank des Schlafzimmers saß, fing an zu miauen, Irina war innerhalb des Bruchteils einer Sekunde wieder eingeschlafen, und Cecile, nackt, mit der fest um ihren Körper gewickelten Daunendecke, presste ihren Rücken an die Lehne des Bettes, wie um zu verschwinden. Plötzlich stand Jutta im Schlafzimmer. Eine wirklich riesige Frau mit blondem gekreppten Haar und blauem Lidschatten bis unter die Augenbrauen, die von Ceciles Anwesenheit völlig unbeeindruckt »Hallo Irina« sagte und dann fragte: »Hallo, wie heißt denn du ?« Cecile antwortete nicht. Jutta redete und redete in einer zu hohen Tonlage, freute sich überschwänglich, die beiden Kater zu sehen, nahm eine

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