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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Augen und sagte: Man lebt doch ganz anders. Man hat doch wieder eine Freude am Beruf! und tatsächlich stiegen die Geburten 1933 an, die der Mädchen jedes folgende Jahr beständig bis 1942, die der Jungen waren schon 1941 rückläufig, und Fritz Schenk freute sich auf die vermehrten Gelegenheiten für sein großes, verschlungenes S, das den Rest seines Namens in einem Schwung auffraß, Schenk, Urkundsbeamter. Cresspahl gab ihm die Hand stumm zurück. Ihm fiel nichts ein. Er merkte sich davon nichts, er glaubte es nie mehr nötig zu haben. Jetzt blieb noch die Kirche, die Bescheinigung von Brüshaver.
    Wenn man Papenbrock fragte, war dieser Brüshaver lasch. Er bot der Stadt nicht die Unterhaltung, in der Pastor Methling zuverlässig gewesen war. Er kam nicht ungebeten. Er ging nicht im Talar aus dem Haus, kam an durch die Stadtstraße in einem Anzug, der nicht einmal schwarz war, ein Vierziger mit schon krummem Gang, schmal in den Schultern, einen kleinen viereckigen Bart im Gesicht, der seinen Blick so träumen ließ, daß sein prompter Gegengruß dann doch verblüffend kam. Es war enttäuschend zu sehen, wie er in den Hausfluren den Talar aus der Tasche nahm und sich umzog wie für eine Reparatur oder eine Arbeit, nicht für einen unfaßlichen Akt. Allerdings hieß es, Sterben bei ihm sei angenehm. Aber Leute wie Käte Klupsch, Leute mit angestammten Plätzen auf der ersten Bank unter der Kanzel entbehrten Methlings geräuschvolle Innigkeit und sagten Brüshaver das Benehmen eines Arztes nach, nicht nur an einem Krankenbett. Und Brüshaver sprach, er predigte nicht, er hob die Stimme nicht, er warf keine Arme von sich. Er betrug sich, als sei die Kirche sein Geschäft. Er drohte nicht, wenn kirchliche Pflichten versäumt waren; er kam auf eine beiläufige Weise darauf zu sprechen. Er erließ keine Aufrufe, weder wegen der Hüte auf den Bankwangen noch wegen der genesenen Wöchnerinnen. Methling hatte ein Schauspiel geliefert, wenn er Bettler drei Meter vor seiner Tür stehen ließ und ihnen unter viel Geschimpf getragene Kleidung zuwarf, nicht ohne nach Alkoholdünsten geschnuppert zu haben; bei Brüshavers wurden die still ins Haus gebeten und durften die Sachen der Winterhilfe im Haus anziehen und kamen zurück auf die Straße wie anständige Bürger. Und Brüshaver hielt sich zu Hause. Er zeigte sich nicht im Lübecker Hof. Nicht nur fehlte er bei den Veranstaltungen von Stahlhelm und Tannenbergbund, er war nicht einmal Mitglied. Am meisten aufgebracht war Papenbrock über die Art, in der Brüshaver den Aufruf der Evangelischen Kirche zu den Märzwahlen verlesen hatte. (»14 Jahre lang haben die
international
gebundenen Mächte Zentrum, Sozialdemokratie und Kommunismus … Nun soll im Kampf gegen sie die Erneuerung Deutschlands
von innen heraus
beginnen.«) - So liest man einen Kontoauszug vor! hatte Papenbrock genörgelt. Es war ihm nicht feierlich genug gewesen, und hätte ihm beinahe die Stimmung für den Gang zur Wahl verdorben.
    Brüshaver war nicht da. Cresspahl wurde von der Frau empfangen, einer Person, die ihm eher vorkam wie ein Mädchen, nicht nur weil sie eben erst dreißig war, auch wegen ihrer lockeren, unachtsamen Bewegungen, weil sie sich die blonden Zöpfe recht lose um den Kopf gesteckt hatte, weil sie zu jung und zu hell schien inmitten der dunklen Bücher und Möbelfarben des Amtszimmers. Und es gelang ihr nicht ganz, Cresspahl zu behandeln als den hilflosen jungen Vater. Sie versuchte es, und nicht einmal die Würde der amtlichen Stellvertretung half ihr. Wenn sie die Personalien und Daten aufschrieb, war ihre Haltung der eines Schulkindes ähnlich. Sie war so nahe am Buch, sie drückte den Zeigefinger so gedankenlos durch. - Und wann? sagte sie, den Bleistift erhoben über Brüshavers Terminkalender. Jetzt ging ihm auf, daß sie ihn die ganze Zeit abschätzend, jedoch ohne Neugier beobachtet hatte. Was ihm wie Freundlichkeit erschienen war, das hatten ihre jungen Jahre ihm vorgetäuscht. Auch sie wollte ihn büßen lassen für die Familie Papenbrock. Er hatte sie aber inzwischen zu lange unentwegt und bereitwillig angesehen, ihm fiel jetzt Unfreundlichkeit schwer.
    – Mittwochmorgen haben wir die Beerdigung Voss. Voss in Rande, den die Nazis zu Tode geprügelt haben. Danach ginge es, Mittwoch um elf: sagte sie. Jetzt sah sie ihn nicht an, blickte in den Kalender, ließ den Bleistift in den Tagesspalten springen, trug dann ohne Aufblicken Lisbeths Bestellung auf eine Kirchentaufe

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