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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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als schon die Gehilfen auf die Jungen zurückten und sie auf die Straße scheuchten, und obwohl sie die Kundin vorher nicht für verrückt gehalten hatten, da sie ja Gemüse erwarb und kaufte, machten sie jetzt ihr hinterher einen Vogel, ganz auf die deutsche Art. Von Marie sagte Max nichts. Seit sechs Jahren hat Max das Kind mit dem Ruf
Hey, Blondie!
begrüßt und mit Pfirsichen oder Äpfeln beschenkt, Zentner Obst hat Marie in seinem Laden verzehrt, und wenn er sie bemerkt hätte in der Halloweenhorde, würde er es erwähnt haben. - Und die Trauben, die für diese Generation nicht gut genug sind, kommen mit Luftfracht aus Kalifornien! hatte er gesagt. - Kartoffeln aus Maine oder von Long Island, Mrs. Cresspahl?
    Der ausgeraubte Polizist stand nun vor Sloanes Supermarkt, mit dem Rücken zur Wand, sehr aufrecht, nicht ansprechbar. Sein Knüppelwirbeln sah nicht mehr spielerisch aus, sondern nach Training, und mochte sein Blick noch so leer und gleichmütig scheinen, so würde kein Kind sich an ihn trauen.
    Auf der östlichen Seite der West End Avenue zog ein Trupp Hexenkinder den Berg hinauf, plastene Kürbisse an Stöcken in der Hand, mit auf den Schultern verschränkten Armen, in fast genauem rhythmischem Tritt, sehr klein neben den dunkel roten und grauen Hauselefanten, sehr unschuldig im Gesang der unausgewachsenen Stimmen:
    One little, two little, three little witches
    fly over haystacks, fly over ditches,
    fly to the moon without any hitches:
    hi-ho, Halloween is here …,
    bis sie unter der Markise von Marcias Tür einschwenkten und an einem erschrockenen Portier vorbei in die Halle marschierten mit dem schrillen, hastigen, hetzenden Schlachtruf
Trick or treat! Trick or treat!,
und diesmal war Marie nicht zu verkennen, rote Stiefel, gelber Mantel, schwarze Kapuze, ein Kind, das auf ein eigenes Fest verzichtet und lieber auf ein anderes mitgeht, als ein Kind von einer anderen Hautfarbe zu sich zu laden.
    Und das Kind, das in der schwarzen Dunkelheit nach Hause kam, hatte eine Viertelstunde im Flur gestanden, ehe es seinen Schlüssel gebrauchen mochte. Als sie sich entschlossen hatte, hatte sie das Kostüm für Halloween zu einem unkenntlichen Bündel gerollt unter dem Arm und ging ohne ein Wort am Tisch vorbei, ohne Blick für das Abendessen, in ihr Zimmer, zog die Flügeltüren hinter sich zu und schloß sie sehr leise und war bis zum Morgen nicht mehr zu hören. Heute ist der zweite Abend, an dem sie geringen Appetit vorschützt, sich gleich hinter ihre Türen verzieht und im ganzen ein nicht mürrisches, aber wortkarges Benehmen anbietet (von dem sie einmal glaubte, sie habe es nicht geerbt), wenn auch wie ein Kind, mit unversteckter Verwunderung, als ob sie etwas nicht begriffe.
    Es war nicht so.
    Erzähl das Francine.
    Es war nicht so. Marcia hatte uns eingeladen, bevor ich jemand einladen konnte.
    Und zu Marcia darf man gefärbte Kinder nicht mitbringen.
    Es war nicht mein Fest.
    Du hast es Francine versprochen.
    Dir habe ich es versprochen, und sie weiß nichts davon.
    Ich weiß es.
    Übrigens war es kein Versprechen. Ich hielt es für möglich.
    Und warum war es nicht machbar?
    Siehst du nicht, daß ich mich schäme.
    Ist es ein angenehmes Gefühl?
    Du glaubst nun den zweiten Tag, daß ich lüge.
    Wie war es denn.
    Ich weiß nicht, warum ich das getan habe.
    Soll ich versuchen, es zu sagen?
    Nein. Dann würde ich es für die Wahrheit halten.
    Was weißt du bis jetzt?
    Jedenfalls nicht die Wahrheit.
    Die Wahrheit ist, so war heute in der Dritten Avenue auf dem Dach und der Seitenwand eines Lieferwagens zu lesen:
    Die Wahrheit ist, daß NU -Hautwasser das beste Mittel ist, Ihre Haut zu erhalten.
    Das ist die Wahrheit, und der Tip, wie man seine Haut rettet, ist gratis.

2. November, 1967 Donnerstag
    Jedem und Allen zur Kenntnis: Ich, Elinor S. Donati, liebe meinen Ehegatten von Herzen, und als solche hoffe ich Frau William R. Donati zu bleiben auf ewig und immerdar.
    Sollen wir sagen: Glückwunsch? An: Mrs. William E. Donati, wer immer das jetzt ist, c/o The New York Times, Abteilung Öffentliche Kundmachungen.
    Am 11. März 1933 machte Albert Papenbrock, Getreidehandlung und Bäckerei zu Jerichow in Mecklenburg-Schwerin, seiner Enkeltochter Gesine H. Cresspahl ein Geschenk. Er überschrieb ihr einen Bauernhof am Stadtrand, mit Land, Scheune und Nebengebäuden, bis zu ihrer Mündigkeit zu verwalten von ihrem Vater, Heinrich Cresspahl, Kunsttischler, Richmond, Greater London.
    Lisbeth. Lisbeth.

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