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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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(gebührenfrei) für Sonntag, den 12. März ein. Sie verabschiedete ihn im Flur, nahm ihre Schürze wieder vom Haken, ließ ihn allein zur Tür gehen.
    Eine Haustaufe am allerersten Morgen, Cresspahl.
    Das kostet zwei Mark und nicht die Welt.
    Und das Kind wär fertig gewesen für die Reise.
    Lisbeth hatte nicht Erlaubnis von Berling.
    Und sie wollte ganz sicher gehen. Sie wollte eure Zeit in Deutschland auch noch mit einer kirchlichen Verabredung verlängern.
    Ihr war eine Haustaufe eben nicht genug.
    Sie hat dich reingelegt, Cresspahl.
    Ich mochte das nicht denken, Gesine. Und du lernst es noch.

1. November, 1967 Mittwoch
    Die Verwalter der Sowjetunion wollen uns mal zeigen was »sozialistischer Humanismus« ist und wollen aus ihren Straflagern und Gefängnissen einige Leute freilassen, etwa Kriegsbeschädigte, Inhaber von Kriegsauszeichnungen, Schwangere und Mütter mit minderjährigen Kindern, nicht aber, zum Beispiel, zwei ungehorsame Schriftsteller.
    Die Verwalter Festlandchinas haben die U. S. A. zum 444. Male verwarnt, diesmal wegen Grenzverletzungen auf dem Wasser.
    Die Verwalter der U. S. A. freuen sich über die längste Blüte der Wirtschaft in der menschlichen Geschichte, einen Rekord von 80 Monaten bisher, und die New York Times hat ihren Angehörigen mehr Entlohnung zugestanden.
    Gestern beging eine Gruppe von Negern auf dem Friedhof Montefiore in Queens den Vorabend von Allerheiligen, warf auch Grabsteine um und beschmiß Autos mit kleinen Steinen und Eiern. Als die Polizei vorfuhr, erst mit einem, dann mit vierzig Funkwagen, waren es dreihundert Jugendliche, die die Vertreter von Gesetz und Ordnung mit großen Steinen und Flaschen bombardierten, alles »Gefärbte«, wie es eine Vor-Schrift der Sprache will.
    Auch auf dem Broadway in unserer Gegend liefen Banden von Kindern umher, in Hexenkitteln, in Hexenhüten, mit bemalten und geschwärzten Gesichtern, aber unter der Farbe und dem Ruß war ihre Haut rosa, und so blieb nicht mal ein Polizist verschont. Der Mann ging versonnen auf dem Bürgersteig spazieren, ließ die Pistolenbeule auf der Hüfte wippen und den Knüppel am Handgelenk wirbeln und versah sich nichts Bösen, als fünf verkleidete Kinder ihn umringten und mit Hüpfen und Schreien vor die Wahl stellten, zu opfern oder ein Opfer zu werden, bis er anfing, in der Gesäßtasche nach Münzen zu fingern, verlegen, von Gegenwehr abgehalten durch die Blicke der erwachsenen Passanten, die nicht nur überwachten, ob er sich wie ein Freund und Helfer betrug, sondern auch einmal mit eigenen Augen sehen wollten, wie ein Polizist öffentlich mit echtem und wirklichem Geld herausrückt. Eines der Kinder, das sich am Rande des Überfalls hielt, und nicht ganz unbefangen fuchtelte und leierte, ein Mädchen von Maries Größe, trug einen langen gelben Mantel mit schwarzen Tigerstreifen, wie ihn Marie über das Wochenende geschneidert hatte. Das Gesicht war eingeschwärzt, und die Haare verdeckte eine schwarze Kapuze, und von weitem gesehen konnte es nicht Marie sein. Marie hatte eine eigene Party veranstalten wollen zu Halloween, All Hallows, Allerheiligen, ein Fest zu Hause, und ihre Francine sollte kommen dürfen.
    Über Maxies Laden war der johlende Haufe schon hinweggegangen, und der, den die Kunden und Gehilfen Max nennen, stand entgeistert inmitten seines säuberlich ausgelegten Gemüses und Obstes, denn auf dem Boden im Sägemehl lagen zertretene Birnen und Weintrauben, hingeschmettert von enttäuschten Kindern, die lieber Geld bekommen hätten. Im Ausgang des Geschäftes, an der frei hängenden Waage, war eine Nachhut noch beschäftigt mit dem Ausplündern einer alten Dame. Sie war auf eine verwegene Weise bunt gekleidet, in jedem Stück ein Weniges fern von den bekannten Moden, in ihren weißlichen Haarsträhnen trug sie einen bläulichen Schimmer, und sie sah fremdländisch aus, nicht in allem angekommen. Wie sie redete war wunderlich. Offenbar hatte sie für diesen Tag Kleingeld gesammelt, und sie redete in einem fort über die wunderbare Erlaubnis und Gelegenheit, zu Halloween den lieben und unschuldigen Kinderwesen eine Freude zu bereiten, und Max’ Gehilfen beobachteten mit Mißbilligung, wie sie Münze nach Münze aus den Gründen ihres verschossenen Beutels grub, nicht nur Nickelstücke, auch Vierteldollars, glückselig quasselnd, ohne Auge für die eher fordernden, erpresserischen Mienen der Kinderwesen vor ihr. Kaum war sie gegangen, mit wackelndem Kopf und vor sich hin brummelnd,

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