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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Minute mit den dreistieligen Drehkreuzen in kauende Bewegung bringen, oder sechs in der Minute, das wären etwa 1600 je Stunde auf vier Durchgänge, das sind zu viele, und dabei sind es mehr. Und wieder das schwere Rollgeräusch, hörbar durch alle Schwankungen und Schienenstöße und Bremsprozesse, das das übermäßige Gewicht der Nutzlast verrät und sie in der Schädelbasis abbildet als ein Gefühl nahezu gefährlichen Drucks.
    In der Bar der Mann hinter dem Tresen setzt Ihnen das Glas hin mit einem unegalen Laut, die Hälfte der Fußbasis klappt nach. Wie zögernd scharrt er die bereitgelegten Geldstücke zusammen und läßt die fertige Auswahl aus drei Münzen zwischen zwei Fingern gegen die Thekenebene schnellen, bevor er sie nach drei unhörbaren Schritten der Kasse anzeigt mit Drücken auf drei Tasten, die einrasten und manchem Kunden widerhallen mit der Gewalt von Donnerschlägen, schicksalhaft ist der barsche Handkantenschlag gegen die aufgesprungene Grundschublade. Sir.
    »Warum bleiben Sie nicht noch, Mrs. Cresspahl.« »Da bist du ja, Gesine.«
    In der späten Nacht, das halb hochgezogene Fenster. Ein ungeschütztes Ohr, dem liberal durchfahrende Autos geduldig und immer noch einmal den Doppler-Effekt erklären oder schnellen Lärm ohne Raffinesse reinhauen, dem anfahrende Busse die Welt der Geräusche neu erschaffen und die bloß erinnerte um die Ecke bringen. Schnellstraßenverkehr, gefiltert durch haardicke Äste, probt die Windstärken vier bis sechs, liefert Dünung und auslaufende Brecher, hängt Windpausen auf und schmeißt Wellen wie Wasser; der Vergleich mit der Ostsee drängt ihn ohne Abfindung aus der Wahrnehmung.
    In Queens sind neulich vier Blocks hochgegangen mit einem Geräusch, wie es sich gehört für die Explosion eines Gashauptrohrs, und die Nahestehenden die Anwohner die Bürger von Queens haben in die Zeitung gesagt: Es war wie aus dem Weltall, wie eine Katastrophe, irgend wie unmenschlich.
    Es ist das Geräusch, das ich jetzt höre aus der Wohnung neben uns, aus den Abendnachrichten von ABC-TV , aus Viet Nam. Es ist wie aus dem Weltall, es ist katastrophal wie Flakschrapnells kurz vor dem unverhofften, dumpfen, erderschütternden Aufprall der Bomben, es ist menschenmöglich. Sir.

31. Oktober, 1967 Dienstag
    In Köln wurden Carl Schulze und Anton Streitwieser, frühere Offiziere der S. S., wegen Beihilfe zum Mord in neun und drei Fällen in ihren Lagern zu Gefängnis und Zwangsarbeit verurteilt. Es wird geschätzt, daß in Mauthausen und den Nebenlagern 120 000 Menschen umkamen.
    Das Bild der Vietnamesin, die mit vorgehaltenen Händen im Schutt und Rauch ihres Dorfes Soldaten der U. S. A. um Schonung ihres Hauses anfleht, ist auf Seite 3.
    In Sing Sing soll das Programmieren von Computern in den Lehrplan aufgenommen werden.
    Nebenher war der März 1933 eine Jahreszeit in Jerichow. Der Wind mochte von der See her in die Stadt stehen, in ihm flatterten doch Strähnen mit von ausgeruhter Erde, von kommender Blüte. Da waren Möven in der Luft, verspielte Flieger. Dicke fette Tauben wärmten sich in Lee der Schornsteine, ließen sich in müßige Gleitflüge abrutschen, beschissen die lange rote Fahne auf dem Rathausdach. Die Spatzen ließen alle Leute wissen, daß für sie gesorgt war. Das Licht machte die Ziegel warm, strich den Putz des Rathauses gelb, machte das ergraute Holz der Hoftore lebendig. Wer dahin sah, kam leicht auf den Einfall, es sei nichts kaputt. Es wird schon werden. Dat treckt sick trecht. Jetzt müssen wir nur noch das Kind in die Akten kriegen, damit es Papiere für Richmond hat. Dann packen wir es in einen Korb und jeder an einem Henkel tragen es nach Hause.
    Avenarius Kollmorgen, zugelassener Rechtsanwalt, ein bißchen kurz, dafür sehr stämmig, wandelte mit ausfahrenden Ellenbogen über den Markt und machte sein Gesicht mit spreizigen Lippen und zwinkernden Augen noch breiter und zog den Hut vor Cresspahl und quäkte mit seiner eingeklemmten Stimme: Gut bei Sach, Herr Cresspahl? Gut bei Sach? und ruderte weiter und sah sich nicht um und hatte auf eine Antwort nicht gewartet. Gut bei Sach, Cresspahl?
    Im Standesamt war Fritz Schenk aufgestanden beim Überreichen der Geburtsurkunden und hatte Cresspahl mit Handschlag beglückwünscht zu den herrlichen Zeiten, in die er ein Kind gesetzt habe, Fritz Schenk der Kaninchenforscher, dem seine Mutter nicht gesagt hatte, wie die Kinder in die Welt kommen. Nahm die Hacken zusammen und sah Cresspahl bieder in die

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