Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
kommt sie in den inneren Saal zurück, händereibend, krumm gehend, so friert sie. Sie sagt nichts über die Schule, sondern spricht über die Statue der Freiheit, die Frédéric-Auguste Bartholdi ausgerechnet in Gestalt seiner lieben Mutter im Hafen von New York ausgestellt hat.
– Gänsefüße hat sie: sagt Marie.
Sie muß sich erst neben Gesine setzen, ihrem geraden Blick ein wenig aus dem Weg sein, ehe sie sich entschließt. - Also, es tut mir leid: sagt sie. Sie hat die Kapuze in den Nacken gestreift, aber kümmert sich nicht um ihren Zopf, der in dem blauen Wollflausch hängen geblieben ist. Sie sitzt vornübergebeugt, mit den Ellenbogen auf die Oberschenkel gestützt, und sogar mit dem Kopf schüttelt sie wie ein Mann, der eine Torheit bereut, obwohl er im Grunde eine Schuld daran nicht zugeben möchte, da er seine Handlung eben nicht begreift. - Nur begreife ich nicht, wie es herausgekommen ist! sagt sie.
Schwester Magdalena tat nicht sonderlich aufgebracht. Sie hatte Teegeschirr aufgebaut in ihrer Kabine unter dem Dach im neugebauten Flügel der Schule, in dem holzgetäfelten Käfterchen, das bei aller Ordnung an Bett und Schreibtisch doch erinnert an ein möbliert vermietetes Zimmer, an eine bloß vorläufige Bleibe. Schwester Magdalena trug das selbe grauschwarze Kleid, in dem sie an anderen Tagen Unterricht hält, in dem sie nach Maries Vermutungen auch schläft, »und zwar auf dem Rücken, ohne sich zu rühren«. Sie war so schwer zu erkennen an dem kleinen Stück Gesicht, das ihr Gelübde den weltlichen Menschen zu zeigen erlaubt, weil sie es überdies kaum bewegte. Sie hielt es fest in dem geduldigen Ausdruck, in dem Strenge und Güte bei einander wohnen können, und war sich nicht bewußt, daß sie den Gedanken an die kahl rasierten Mannequins der pariser Mode nahelegte. Schwester Magdalena ist dreißig oder fünfzig oder vierzig Jahre alt; sogar das Alter ihrer Stimme ist versteckt in einem unveränderlichen Ausdruck von Ergebenheit und Bestimmtheit in einem. Mit der Teetasse, ihren gastgeberischen Manieren versuchte sie die Gelegenheit eines ungefährlichen Besuchs anzudeuten; sie saß aber steif auf ihrem Stuhl, Knie an Knie, Schuh an Schuh, und noch die locker in einander gelegten Hände bestimmten den Anlaß als eine Vorladung. Sie hatte zu klagen über Marie. Sie trug ihre Klage vor als Sorge um das Kind, als Mitleiden, in jener pädagogischen Sprache, die Befunde und Absichten verbirgt hinter Ausdrücken des Lebens außerhalb der Schule, mit Umwegen und Querverbindungen, in denen eine direkte Frage eingesponnen wird wie die gefangene Fliege im Spinnenfaden. Sie begann damit, daß Kinder Gefühle äußern. Dann beschrieb sie die Unterschiede zwischen den einzelnen Gefühlen. Sie erläuterte den wechselnden Grad an Kontrolle, den Kinder über ihre Gefühle haben. Pubertät umschrieb sie als »Veränderung nicht nur der Seele«. Kurz, Marie hatte Gefühle geäußert, war es das? Das war es nicht. Allerdings hatte sie Gefühle auszudrücken versucht. In einer Geschichtsstunde hatte sie über die Behandlung der Indianer durch Amerikas Eroberer eine Empörung laut werden lassen, die den Ablauf des Unterrichts störte und eine Diskussion erforderlich machte, die bei allen psychologischen Gewinnen doch die Einhaltung des Pensums gefährdete. Sie hatte anläßlich eines Aufsatzes »Ich sehe aus dem Fenster« nicht nur eine völlig sachfremde Beziehung zu dem Krieg in Viet Nam hergestellt, sie hatte weiterhin durch Pausengespräche andere Schülerinnen in Schwierigkeiten, ja geradezu Ratlosigkeit des Empfindens in Hinsicht auf jenen Krieg gebracht. Sie war heftig geworden. War das der Grund der Beschwerde? Nein. Es war vielmehr eine Hinneigung der Schülerin zur Parteinahme, zur fast moralischen Solidarisierung mit Unterlegenen in geschichtlichen Vorgängen. Unbestreitbar sei der Krieg in Viet Nam eine Tragödie, aber eben wie andere Vorfälle in der Historie auch, und das Augenmerk der Schule war nicht gerichtet auf die Vermittlung der ungerechten Aspekte des Lehrstoffs, sondern nur auf die Sache des Lehrstoffs an sich. Ein Kind, das bereit sei zu Erregung über feststehende Tatsachen, könne zu einer Gefahr werden für die Gemeinschaft im Lernen und Leben, die der Geist der Satzung vorschreibe. War es das? Nein, Mrs. Cresspahl. Es ging Schwester Magdalena um nichts als das seelische Wohlbefinden dieses Kindes.
Wie sollen wir das Marie erklären? Sollen wir ihr vorwerfen: Marie, you are too biased?
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