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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Rechnung, weil dem Empfänger des Geschenks zuliebe. Nach der Versetzung des zu Überschreibenden in einen normalen Zustand sei das Grundstück immer noch nicht den Erfordernissen des vom Verwalter betriebenen Handwerks angepaßt, und dann immer noch nicht sei ein Geschäft gegründet und aufgebaut, und dann: sagte Cresspahl verbindlich, im Ton eines gutmütigen Versprechens: Denn rädn wi von min Gelt.
    Avenarius Kollmorgen schritt noch lange nach Mitternacht durch seine drei Zimmer, weniger aufrecht, und manchmal krümmte er sich ein bißchen vor Vergnügen. Er trug sein Glas mit sich, nippte sachverständig, hob im Schlucken ein ganz entspanntes, freudiges Gesicht gegen die Decke. Er hatte Papenbrock bei einer Niederlage beobachtet. Papenbrock hatte für Gefühle viel Geld verschrieben, und mehr als er wollte. Papenbrock hatte seinen Schwiegersohn so im Nachteil geglaubt, daß er die eigene Behinderung nicht berechnet hatte. Nun wußte Avenarius etwas mehr über Papenbrock. Sein Bild war vollständiger geworden. Er wußte Bescheid mit Bildern, immer irgend wo deckten sie sich nicht mit den Personen, er erfuhr das an seinem eigenen Leibe, aber während die Leute ihr Bild von Avenarius Kollmorgen nicht auf ihn anwenden konnten, er wußte seins von ihnen wohl zu benutzen. Oh ja. Am liebsten entsann er sich der Minute, in der Papenbrock die Lage begriff und das Glas halbgetrunken wegstellte und Abschied nahm von der Erwartung eines redseligen Abends unter gleichgesinnten Männern. Es war ein schöner Abend für Avenarius K. gewesen. Sogar die private Armee dieses Österreichers, dieses … Hitler, hatte für diesen Abend verzichtet darauf, auf dem Marktplatz zu grölen und hineinzubrüllen in ein Schauspiel, das ausgefallen war, als hätte Avenarius einen Wunsch tun dürfen. Der verkürzte, derbe Herr blieb an einem Fenster stehen und schob seinen mächtigen Kopf zwischen den Gardinen hindurch und betrachtete den nächtlichen Marktplatz, der zwischen den weiß leuchtenden Giebelhäusern vor ihm lag wie eine ungeheure Bühne. Einmal sollte eine solche Bühne aufgebaut sein für Avenarius, vor aller Zuschauerschaft zwischen Wismar und Lübeck, daß er einmal sich darstellen konnte als das weise und doch tief fühlende Wesen, das er in Wirklichkeit war. Sie würden es nicht verstehen. Er benötigte nicht ihre Versuche, ihn zu verstehen. Sie konnten nicht anders, als ihn verfehlen. Er wollte gern zufrieden sein, allein wie er war. So störte ihn niemand bei der erhabenen Unterhaltung, die niemand als er aus den banalen Geschäften der anderen erbauen konnte. Jedoch, dem Recht die Ehre: er hatte einen solchen Abend nicht erwarten dürfen. Auf so viel Vergnügen hatte er kein Recht. Wenn aber er darauf kein Recht hatte, so auch nicht auf noch eine Flasche Pommard; da aber er das eine dennoch bekommen hatte, mußte er sich das andere holen. Anders kam die Welt nicht in Ordnung, und die Ordnung lag ganz bei ihm. Geh in den Keller, Avenarius.

18. November, 1967 Sonnabend, Tag der South Ferry,
    vielleicht der letzte in diesem Jahr. Denn gestern nacht zog der zweite Schneesturm binnen einer Woche durch den Staat New York und Neu-England, und wenngleich er an der Stadt nur mit Regen und einzelnen Flocken vorbeiwischte, die Temperatur hält sich schon lange in den unteren vierziger Graden Fahrenheit. Noch immer zieht Gesine davon 32 ab, nimmt den Rest mit 5 mal und teilt ihn durch 9, so daß sie mit ihren 6° Celsius zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie Marie, die seit jeher 42 Grad Fahrenheit hat in eine Empfindung übersetzen können: Es ist kalt.
    Das sagt Marie nicht. Auf beiden Wegen der Fähre läuft sie in den äußeren Umgängen spazieren, in Richtung Manhattan sogar nur auf der Windseite, obwohl Gesine innen auf der anderen sitzt. So ist sie nicht zu sehen. So muß sie sich nicht zeigen. So muß sie nicht reden. Gestern hat sie die Post neben das Telefon gelegt ohne sie nach Freunden, Fremden und Reklamemüll zu sortieren, als hätte sie die Sendungen nicht durchgesehen und insbesondere den Brief mit dem amtlichen Aufdruck der Schule nicht bemerkt. Sie hat sich wie zufällig in ihr Zimmer verzogen wann immer Gesine in die Nähe des Telefons ging, und es ist nur möglich, daß sie die Verabredung mit Schwester Magdalena an diesem Morgen mitgehört hat. Dies Spiel kann für zwei sein. Gesine läßt ihr den Vortritt ins Gespräch, wie sie ihn ihr gibt, seit vier Stunden schon. Jetzt, auf der Höhe von Liberty Island,

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