Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Jedoch die New York Times kommt Gesine vor wie eine Tante aus vornehmer Familie. Die Familie hat sich ein Vermögen erarbeiten lassen, jedoch nicht in brutaler Art, schlicht zeitgemäß. Die Familie hat sich verdient gemacht um alle Regierungen, und alle Regierungen stehen im Geschichtsbuch. Die Tradition der Familie setzt sich in dieser überlebenden Tante fort. Gesine stellt sich Alter vor, eine hagere Figur, harte Falten im Gesicht, bittere Mundschwünge, allerdings dunkle und elegante Kleidung, Beharren auf hochgesteckten Frisuren, eine verkratzte Stimme, Lächeln nur in den Augenwinkeln. Nie Jähzorn. In ihrer Haltung, wie sie die Beine hält, kokettiert sie mit ihrem Alter, es ist der Beweis für ihre Erfahrungen. Sie ist in der Welt unterwegs gewesen, sie hat dem Leben ins schmallippige Antlitz geblickt; ihr kann man nichts vormachen. Sie hat ihre Affairen gehabt, aber sie war beileibe keine Abenteurerin, es ist alles standesgemäß zugegangen in den besten Hotels in Europa; das liegt hinter ihr. Sie erwartet Respekt so deutlich, fast lädt sie seine Verweigerung ein. Sie ist ein bißchen hartnäckig, fast aufdringlich, wenn sie sich von Jüngeren ausgeschlossen fühlt. Sie gönnt den jungen Leuten ihren Spaß, solange sie es ist, die den Spaß zumißt. Gesine stellt sich ein Wohnzimmer vor, einen Salon, ausgestattet im Stil des Empire, in dem die Tante Hof hält. Es geht manierlich zu, die Älteren werden zuerst gehört. Es gibt Tee, es gibt Whiskey. Danach gibt es Tee. Die alten Liebhaber kommen wegen der Erinnerung, der Nachwuchs zur Belehrung. Das Personal ist von fanatischer Diskretion. Die Tante raucht (Zigarillos), sie trinkt auch von den harten Sachen; sie versteht einen Witz, solange sie im festen Interesse der Allgemeinheit ihn unzulässig zu nennen nicht umhinkann. Sie geht mit der Zeit. Sie kann kochen, sie kann backen. Die Tante ist ledig geblieben, es deutet ihre Ansprüche an. Sie gibt Ratschläge in Ehefragen, sie kann sich vorstellen wie es in der Ehe ist (immerhin soll ein Musikkritiker Musik kritisieren, nicht Sinfonien schreiben. Nicht einmal Sonaten). Sie ist modern. (In ihrer Familie hat Gesine eine solche Tante nicht.) Wir haben es hier mit einer Person zu tun, mit der man die Pferde stehlen gehen kann an allen Tagen, da die Gesetzgebung den Diebstahl der Pferde vorschreibt.
Jedoch ist diese Person nicht nur angenehm.
Ihre Manieren sind nützlich, sind bildend.
Sie brüllt nicht, sie hält Vortrag.
Auf fünfzehn mal dreiundzwanzig Zoll, acht Spalten, bietet sie über zwanzig Geschichten zur freien Auswahl.
Sie nennt einen Angeklagten noch nicht schuldig. Von den täglichen zwei Morden in der Stadt erwähnt sie nur die lehrreichen.
Sie nennt den Präsidenten nicht bei seinem Vornamen, allenfalls das Opfer eines Mordes.
Sie erwähnt Hörensagen als Hörensagen.
Sie läßt noch zu Wort kommen, wen sie verachtet.
Sie spricht mit den Sportlern in der Sprache der Sportler.
Noch auf die Veränderung der Natur weist sie hin.
Sie hilft den Armen durch milde Spenden, und sie untersucht die Armut nach der Wissenschaft.
Sie schilt das unverhältnismäßige Urteil.
Sie hat wenigstens Mitleid.
Sie ist unparteiisch gegen alle Arten der Religion.
Sie bewahrt die Reinheit der Sprache, noch in den Anzeigen ihrer Kunden verbessert sie.
Sie bietet dem Leser höchstens zwei Seiten Reklame ohne eine Nachricht an (außer am Sonntag).
Sie flucht nicht, noch daß sie den Namen Gottes fälschlich gebraucht.
Sie gesteht gelegentlich Irrtümer ein.
Sie kann sich mäßigen und einen Mörder einen umstrittenen Charakter nennen, vom Brigadegeneral aufwärts.
Sie hat die guten Formen mit dem Löffel gegessen. Warum sollten wir ihr nicht vertrauen?
1. September 1967 Freitag
Der amerikanische Befehlshaber in Süd-Viet Nam sagt: Die Nordvietnamesen lügen. Radio Hanoi gibt die amerikanischen Verluste (Tote, Verwundete, Vermißte) für die ersten sechs Monate dieses Jahres mit 110 000 an. Er sagt: Es sind 37 038.
An diesem Tag wird das Gesetz über Ehescheidung von 1787 ungültig. Wer jetzt heiratet, muß zwei Jahre warten, bis er wieder frei ist.
Du mußt nicht mich heiraten: sagt D. E.: du sollst bei mir leben.
D. E. schickt Blumen, Telegramme, Theaterkarten, Bücher. Er führt Marie zum Essen aus, er hat sich mit Esther angefreundet, er hört Mr. Robinsons Erzählung von seiner Militärdienstzeit in Westdeutschland zu. D. E. wohnt in New Jersey, aber er verbringt viele Zeit in den Bars um
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