Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
die 96. Straße am Broadway, zwei Blocks vom Riverside Drive. Am Telefon kann er fast immer sagen: Ich bin in der Nähe. D. E. ist ein Mann von fast vierzig Jahren, ein langer Kerl in irischen und italienischen Jacken, mit einem langen, fleischigen, geduldigen Gesicht, über dem er sein graues Haar lang und gescheitelt trägt, als wollte er sein Alter verstecken. D. E. ist zweihundert Pfund schwer und bewegt sich auf kleinen Füßen flink. D. E. fährt einen großen englischen Wagen, seine Anzüge sind in ausgesuchten Farben gehalten, D. E. fehlt es an wenig. D. E. arbeitet in der Rüstung.
D. E. sagt: Ich arbeite für die Verteidigung.
Gesine hat D. E.s Namen zum ersten Mal in Wendisch Burg gehört, 1953. Er hatte die selbe Schule besucht, von der Klaus Niebuhr und die Babendererde in jenem Frühjahr vorzeitig abgingen, und er sollte von seinem Physikstudium in Ostberlin ausgeschlossen werden, nachdem er in einer Fakultätsversammlung den Fall Babendererde als ein Beispiel für Verfassungsbruch in der Deutschen Demokratischen Republik (durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik) dargestellt hatte. Da noch nicht, aber nach dem Juniaufstand verließ er das Land. Er wird sich entschieden haben mit einer solchen Liste von positiven und negativen Faktoren, wie er sie heute anlegt, wenn er sich zwischen Autos oder Häusern oder politischen Meinungen nicht entscheiden kann. Damals hatte auf der einen Seite Wendisch Burg gestanden, der Sozialismus in der ostdeutschen Manier und eine verschleppte Liebschaft mit Eva Mau; auf der anderen Seite seiner Rechnung war herausgekommen: Die Aussichten für meine Ausbildung sind hier nicht günstig. So hatte er sich nicht selbst entschließen müssen.
Gesine hatte ihn im Flüchtlingslager Marienfelde in Westberlin zum ersten Mal gesehen, einen hageren, steilköpfigen Jungen mit damals blondem Haar, der sich in einer zerstreuten Art um sie bemühte, indem er sie nach Jerichow ausfragte und ihr politische Theorie mit viel physikalischem Vokabular vortrug. Mühelos wußten sie sich nur über den Fall Babendererde zu unterhalten. Er machte sich nicht die Mühe, sich in die selbe Stadt wie sie weisen zu lassen. Sie traf ihn nur zwei Tage, bevor er nach Westdeutschland ausgeflogen wurde. Vor der Aufnahmekommission sollte er gesagt haben: Ich habe mich für das kleinere Übel entschieden. Sie ließen ihn dafür nach Stuttgart, er schrieb seine Doktorarbeit in Hannover, von Westdeutschland ging er nach England, in die U. S. A. gekauft wurde er 1960. Er schickte zwar Ansichtspostkarten, manchmal Briefe, in denen vornehmlich von den Taten und Erlebnissen Eva Maus die Rede war, und aus Stuttgart schrieb die junge Frau Niebuhr Berichte über D. E.s rasche Liebschaften in einem bewundernden, fast ergebenen Ton. Die Babendererde spricht von D. E. noch heute wie von einem älteren Verwandten, als hätte sie ihm etwas zu verdanken. Gesine war elf Monate in New York, ehe er sie fand, beim Blättern im Telefonbuch, und sie zum ersten Abendessen einlud, ein massiger, maulfauler, fast feierlicher Patron, und ihr die Ehe antrug, nachdem er Marie kennengelernt hatte.
D. E. arbeitet für eine Firma in einem Industrial Park, New Jersey, die an der DEW LINE beteiligt ist. D E W sind die Anfangsbuchstaben von Distant Early Warning, einer Linie aus Radarstationen rund um die Territorien des nordatlantischen Vertrages, die sowjetische Raketen so rechtzeitig anzeigen sollen, daß noch Zeit ist für einen amerikanischen Gegenschlag. Er wird den Militärs mehr versprochen haben als eine Entschiedenheit für das geringere Übel, ehe sie ihn an diese Arbeit ließen und ihre Geheimnisse bei ihm sicher glaubten. Er arbeitet kaum noch in der Wissenschaft, er ist ein Techniker. Er verdient inzwischen fünfundzwanzigtausend Dollar im Jahr, und ein Teil seiner Arbeit sind nun Inspektionsreisen nach England, Italien, Frankreich, Dänemark, Norwegen, und ein Vertreter der Gesandtschaft wartet an der Paßkontrolle. Nach D. E.s Darstellung sitzt sein Kollege bei den Sowjets eingesperrt in einem Militärflughafen und treibt Schwarzhandel mit Fachliteratur. Seine Firma kann sich verlassen auf die Regierungsaufträge für die verbesserten Systeme der siebziger Jahre, und D. E. kann sich verlassen auf das Vertrauen, das die Firma in seine Fähigkeiten setzt. D. E. läßt sich daran gelegen sein, diese Fähigkeiten durch die regelmäßige Einnahme von Alkohol herabzumindern.
Das Haus, das D. E.
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