Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
uns anbietet, sitzt an einem breiten Bach in einer waldigen Gegend von New Jersey. Es ist ein altes Kolonistenhaus aus Holz, mit weißen Klinkerschindeln, blauschiefrigem Dach. Es gehört ihm jetzt fast zur Hälfte. Das Haus wird besorgt von D. E.s Mutter, einer knochigen, schüchternen, arbeitsseligen Dame, die ihr Englisch von ihren Dienstmädchen gelernt hat. D. E. war einer von den wenigen, die ihre Leute aus Ostdeutschland zu holen wußten, bevor die offene Grenze in Berlin gesperrt wurde. Der Ort besteht aus wenigen, verstreut liegenden Wohnhäusern, und ihr Bild von den U. S. A. hat D. E.s Mutter sich aus einer Ähnlichkeit der Landschaft bei Wendisch Burg gemacht, und bei weitem von den Fernsehprogrammen. Sie ist so stolz auf ihren Sohn, sie will begraben werden, wo er zu Erfolg kam. Zu Gesine beträgt sie sich vorsichtig, fast förmlich, als müsse sie Ängste ausräumen. Sie seufzt über D. E., wenn er sich abends in sein Schreibzimmer begibt mit dem französischen Rotwein, den er kastenweise von einem Importeur bezieht, aber sie schweigt, und sie stellt ihm jeden Morgen zwei Flaschen bereit. D. E. sitzt an seinem stählernen Trumm von einem Schreibtisch, eine gewichtige, betrübte Figur in der Nacht, und telefoniert mit der Insel Manhattan. Er sagt: Dear Miss Mary, quite contrary, besuch mich doch, das Wochenende ist so lang. Ich mache dir im Garten eine Braterei, ich fahre dich an die See. Er sagt: Wenn sie nicht will, laß mich euch besuchen.
Du willst nur nicht allein sein, wenn du stirbst.
Bei mir wäre aber das Kind versorgt.
Leider hat D. E. das Kind herumgekriegt. Marie lacht über seine Grimassen, besonders die der verletzten Würde, über seine Vorführung von nölendem Mecklenburgisch, in der er ihr zuliebe jeden zweiten Satz mit einem quietschenden »Nich?« abschließt, über seine Übungen im Dialekt der Südstaaten oder Neu-Englands, und sie beneidet ihn um sein Englisch, denn D. E. ist in Sprachen ein Papagei. Marie glaubt seine Geschichten voll rascher Kehrtwendungen, von jener Dame, die einen Polizisten vor der St. Patrick-Kathedrale mit ihrem Schuh über den Kopf schlug, von seinen Katzen, die zählen können, von Vizedirektoren seiner Firma, die auf dem siebenten Stockwerk Krieg gegen einander führen. Marie entwirft Kodes, seit er ihr Verschlüsselungssysteme beigebracht hat. Marie bewundert sein Benehmen in Restaurants, und daß er Geld hat für Restaurants im 51. Stock. Marie schiebt ihre Tür nachts einen Spalt auf, wenn D. E. am Tisch sitzt bei seinen Flaschen und redet, über Laser, über die staatliche Entwicklungsgeschichte Mecklenburgs, über Toms Bar. Marie hält die beiden Gästezimmer oben in D. E.s Haus für ihr eingetragenes, unabänderliches Eigentum. Sogar diesen Namen hat D. E. von ihr, weil sie den geringen Schluckauf zwischen »Di« und »I« genießt. Ihm nimmt sie das Trinken nicht übel (er liegt nicht auf den Stufen vor den Notausgängen des Kinos in der 97. Straße, zerlumpt, verschuppt in Schmutz und Bart, heiser schnarchend, die Hand noch an der Flasche in brauner Tüte, er ist kein Broadwaybettler, er ist ein Professor). Einmal hatte D. E. seinen Besuch angesagt, und Marie ging ans Telefon und bestellte einen Vorrat Rotwein und Zigaretten Gauloise und bezahlte mit Haushaltsgeld. Aber D. E. kommt mit Tüten unter beiden Armen, unter der Achsel hat er Blumen, zwischen den Fingern klemmt er Schokolade, und schon vom Flur her ist seine dröhnende frotzelnde Stimme im Gespräch mit Mr. Robinson zu hören, und Mr. Robinson bleibt in der offenen Fahrstuhltür stehen und sieht zu, wie D. E. die Cresspahlsche Wohnung betritt, den Kopf schnuppernd erhoben, ehrfürchtig ausrufend: Die gu-te mecklenbur-gische Küche! Und Marie lacht.
2. September, 1967 Sonnabend
In der Nacht, bis in den frühen Morgen, krochen die Autos dicht an dicht am Fluß in das lange Wochenende und schickten kurze Wellen dumpfen Lärms in die offenen Fenster am Riverside Drive. D. E. war nicht abzubringen von einem Vergleich mit näherkommendem Artilleriefeuer. Jetzt haben die Ausflügler Stille hinterlassen, und bis zu 660 von ihnen, wird vorhergesagt, werden am Abend des Tages der Arbeit in Verkehrsunfällen gestorben sein.
Der Morgen ist kühl, hell, trocken im Park. Dieser Spielplatz, besprenkelt mit weißem Licht, gehört zu Gesines Anfang von New York; hier hat Marie ihr die ersten Nachbarn zugeführt. An diesem Morgen sitzt sie auf einer der Bänke am Rande der Arena
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