Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
anderen Hand nur mühsam den feierlichen Umschlag aus der linken Tasche holen. Amanda draußen, an ihrem seitlich gestellten Maschinentisch, kann den Auftritt gut verfolgen. Sie zwinkert vor Belustigung. Der Umschlag enthält einen persönlichen Scheck Dr. Pompas über zweitausend Dollar und keine Hundertstel mehr. Schulden haben die Herren nicht gerne.
Jetzt rückt die Uhr im Handelsministerium zu Washington, die alle vierzehneinhalb Sekunden einen neuen Bürger der U. S. A. dazuzählt, einen Schritt weiter. Jetzt sind es 200 Millionen.
21. November, 1967 Dienstag
Die New York Times lobt die Reaktion der nationalen Geldmärkte auf die britische Währungskrise; sie spricht von einem kaltblütigen und geordneten Verhalten. Die größte Bank Chicagos hat ihren Minimalzins um ein halbes auf 6 Prozent angehoben.
Gestern war es doch nicht 11 Uhr, als die Uhr in Washington den zweihundertmillionsten Bürger der U. S. A. zählte. Damit der Präsident es sehen konnte, wurde die Anzeige um drei Minuten verzögert. Die Ziffer ist ohnehin überholt. Schon 1960 sind mindestens 5,7 Prozent verpaßt worden; die Gruppe der Neger wahrscheinlich um neuneinhalb Prozent. Vorsorglich weist die New York Times auch auf die 790 Millionen Festlandschinesen hin.
Es war also der Tag von Potsdam, der 21. März 1933, ein Dienstag, an dem ein Irrer namens Hitler von einem alten Feldmarschall das Deutsche Reich in demütiger Verbeugung entgegennahm, an dem Cresspahl zurückkam nach Richmond im Süden Londons. Der Narr. Hoffentlich begriff er den Abschied auf den ersten Schritt.
– Es ist nicht vorgesehen, daß man seinen Vater beschimpft:
sagt Marie.
– Du hast Richmond gesehen.
– Ich fand es nicht aufregend: sagt Marie.
Wir haben es gesehen. Es war ein November in London. Was wissen wir noch? Wir kamen aus Genf, und Marie ließ sich so ablenken von der Befriedigung, wieder unter Leuten mit englischer Sprache zu sein, daß sie auf Heathrow versuchte, den Bus zum Air Terminal auf der rechten Seite zu besteigen. Man hat es ihr dann erklärt. In der Stadt haben wir den Bahnhof Victoria abgesucht nach der Stelle, an der Lisbeth Cresspahl im Januar 1933 zum letzten Mal mit einem englischen Gepäckträger verhandelte. D. E. machte sich erbötig, Auskunft bei der Verwaltung des Bahnhofs einzuholen, und war schon auf dem Weg, als wir ihn zurückriefen. Ich wollte es so genau nicht wissen. Wir haben im ersten (im zweiten) Stock der Station zu Mittag gegessen, und D. E. versuchte das Richtige zu treffen, indem er Marie wegzog in ein Gespräch über das britische Münzsystem. Ich hatte alle Ruhe, in jenem Speisesaal nach meiner Mutter zu suchen, und fand sie nicht. Was wissen wir noch? Marie verglich die Ubahn von London mit der, die sie für ihre eigene ansieht. Ihr gingen die Rolltreppen zu tief unter die Erde, und in den Zügen fühlte sie sich eingesperrt, weil ihnen die Tunnelwölbung so dicht auf dem Dach saß. Am zweiten Abend kam D. E. angeflogen von seinem brüsseler Radarkongreß und quartierte uns um in eine von seinen Herbergen, eine amerikanische. Dort haben wir Herrn Anselm Kristlein zum ersten Mal von Angesicht gesehen. Von den britischen Unterkünften für ärmere Fremde haben wir noch lange gedacht: das machen die Leute aber nur, wenn die Königin nicht in der Stadt ist; die könnte doch sonst keine Nacht ruhig schlafen! Aber die Königin war zu Hause.
Wir fuhren nach Richmond mit der Linie District, anfangs in einem offenen Steinkanal, neben bräunlich eingestaubten Leitungen her, die aussahen wie in Ruhe vor sechzig Jahren verlegt und nicht notdürftig geflickt nach einem Bombenangriff der Deutschen. Dann kam das Licht über der Erde in den Zug, schwarz und braun gestochen in den Farben des hiesigen November. Die Hochhäuser waren zum Wegdenken, die hatten meine Eltern nicht gesehen. Neben den wechselnden Bildern in den Fenstern reisten stur die Plakate mit, auf denen die Banken Barclay und Midland einen formvollen Krieg gegen einander austrugen, mit eben noch sittlichen Versprechungen. Waren da Kähne auf der Themse? da war Nebel. Ich könnte die Kette der Stationen auswendig wissen: Ravenscourt Park, Stamford Brook, Turnham Green, Gunnersbury, Kew Gardens, Richmond, und zurück nach Upminster. Statt dessen mußte ich in Richmond einen Straßenplan kaufen; ich wußte nicht einmal, ob Cresspahl vor dem Bahnhof sich nach links oder rechts gewandt hatte. Die Frau in ihrem Kiosk sagte zu mir: Meine Liebe.
Weitere Kostenlose Bücher