Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Cresspahl war nach links gegangen, über die Eisenbahnbrücke auf den Quadrant, dann in die Sheen Road, womöglich durch die Abkürzung von Waterloo Place, vorbei an den sparsamen alten Steinhütten, wo er seinen Tod hätte abwarten können. Lisbeth Cresspahl hätte warten können in einem der Häuschen an der Sheen Road, alle gleicher Maßen zweistöckig mit dem gleichen zweifenstrigen Erkervorbau, der ein Dach für sich allein braucht; zur Not könnten wir sie finden im Altersheim von William Hickey, kurz bevor die Manor Road abzweigt nach links und dahin, wo ihr Mann früher eine Werkstatt hatte. Cresspahl ist nicht älter geworden als vierundsiebzig, das wissen wir; sie aber hätte hier überlebt, und in eine jener roten Säulen mit dem Topfdeckel ohne Henkel könnte sie noch heute Briefe einwerfen nach New York: Liebe Tochter.
Die Engländer hätten uns recht bald hinter Stacheldraht gesetzt, liebe Tochter.
Es wäre doch nur für sieben Jahre gewesen.
Als sie Herrn Mayer zum zweiten Mal in die Internierung holten, entschuldigte er sich für einen Augenblick ins Nebenzimmer und
Ich will das nicht hören.
Nur weil ich es getan habe?
Hättest du es auch in Richmond getan, wegen weniger Jahre in einem Ausländerlager?
So weit bin ich in meinem Leben nicht gekommen, Tochter. Das kann ich nicht wissen, und nicht versprechen.
Wir machten die Reise nicht allein, sondern mit D. E., und anfangs verwandelte er den Ausflug in eine gründliche Besichtigung von Richmond, führte uns um den Green, zur Maids of Honour Row, zum Alten Palast und zum Ham House, lauter vornehmen Gegenständen, reserviert für Adel und Bildung, denen meine Eltern aus dem Wege gegangen wären. Dann gab er sich mit den bürgerlichen Teilen der Stadt zufrieden. Er sprach seine Fragen nicht aus; er musterte mich von der Seite, als wisse ich insgeheim Bescheid über das Restaurant im Tower House an der Brücke, das so verwittert war, als sei es schon vor fünfunddreißig Jahren kein Platz für Gäste gewesen, geschweige denn für meine Mutter. Auf der Promenade ging er mit Marie vor mir her, beide mit einander beschäftigt Hand in Hand; er wandte sich halb um, als vergewissere er sich bloß meines Weitergehens. Es ist möglich, hier ist sie gegangen im Winter 1932, vorsichtig mit ihrem schweren Bauch zwischen den aufgeregten Kindern, die der Arbeit eines Tauchers zusahen. Die Promenade war ganz leer, alles Buschwerk kahl. Das Kaufhaus Gosling gab es noch, Ecke King Street. Das Kaufhaus der Gebrüder Wright hatte die selbe Telefonnummer wie damals: Richmond 3601. An Shorts Greyhound-Restaurant wäre ich lieber vorbeigegangen; aber D. E. hatte sich die Adresse 24 George Street empfehlen lassen. Alle Ansichtskarten von Richmond zeigten sommerliche Zustände: Fliederwolken an der Dampferbrücke, aufquellende Klumpen Laub vor den herrschaftlichen Häusern an der Wasserseite der Hill Street, alte Leute in Liegestühlen auf besonntem Uferrasen an einer grünlichen Themse, sonntägliches Gewimmel auf der anderen Seite um den zirkusbunten Bau des Castle-Restaurants, das in Wirklichkeit kahl im Wind gestanden hatte, fröstelnd zusammengezogen unter seinen fadenscheinigen Farben. Das alles habe ich nicht gesehen. Marie weiß von Richmond am besten ein großes scheunenhaftes Puppenhaus in einem Laden Ecke Paradise Street und Kirchweg, und D. E. ließ sich nicht gern abhalten, es für viele Pfund, für 220 Dollar nach Amerika zu kaufen. Überall die Einheimischen hielten uns für Touristen der U. S. A. Am Schaufenster eines chinesischen Restaurants in der Sheen Road saßen zwei bejahrte Rentnerinnen und neckten sich behaglich mit dem Besitzer, der einen zweijährigen Jungen auf der Hüfte trug. Womöglich hätte sie auf ihre alten Tage noch fernöstliche Küche versucht. So, und am Ende doch mit Freundinnen in Richmond, hätte sie am Fenster sitzen können und den Tag verwarten. Und sie hätte gelernt, das Wort Tee als »Tai« auszusprechen. Es wäre vielleicht doch gegangen mit der Parish Church. Solche roten Knie hätte ich bekommen von dem unentwegten Flußwind, wie alle Mädchen, die auf dem Weg in die Stadt waren, noch im Winter in Kniestrümpfen. Ich wäre jemand anders, bis auf den Namen. Ich wäre nicht deutsch; ich würde von den Deutschen sprechen in einem fremden und entfernten Plural. Ich hätte die Schulden einer anderen Nation. Anfangs war es schwer zu erkennen. Denn in der Manor Road konnte die Werkstatt von Reggie Pascal nicht gewesen
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