Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
vorüber. Sie brachte meinen Mantel, sie schob mich aus der Tür. Alle anderen glaubten es.
Es wurde nicht wirklicher durch D. E., nicht durch den Galopp der sonntäglich leeren Züge unter der Erde. Auch jemand wie D. E. wird man nicht an einem Feiertag einen persönlichen Scheck einlösen. Im Expreß der Westseite saß dicht nebeneinander eine Familie, Vater Mutter Sohn und Töchting, alle geschniegelt und gebürstet, dem Mädchen waren stramme Zöpfchen gedreht für den halben Tag in den Kinos der 42. Straße, das erschwinglichste Ausflugsvergnügen für Arbeitslose, für Neger. Die immerhin konnten glauben an ihr Ziel. Die Höhle unter dem Times Square war leer und still wie der Marktplatz einer kleinen Stadt. Beim Laufen zum Pendelzug half mir eine Gruppe Schulmädchen, nahm mir die Hälfte der erstaunten Blicke aus dem Nacken. Dann war es gar nicht erstaunlich gewesen, auch dieser Zug klappte unverzüglich mit den Türen, begann zu traben. In der Halle des Grand Central schienen alle Stadtstreicher und Polizisten aufzuwachen. Für einen Moment sah ich mich aus der Höhe des blauen Kuppelgewölbes, eine winzige Figur, die von der General Electric-Ecke her quer über eine Piazza läuft, in der Richtung abgeknickt durch den Achspunkt der Auskunftsbude, bis die Fahrtreppen sie hinauf in das Gebäude der PanAmerican wegziehen. Im Büro der New York Airways standen Briten mit Golfgepäck, abgeschabte alte Herren, die, bestürzt, Platz machten. Der Fahrstuhl stieß in die Höhe, als wollte er durchs sechzigste Stockwerk hindurch in den Himmel. Auf dem flachen Dach über den Dächern stritt sich der Meereswind mit den Böen, die die Rotorblätter des Hubschraubers verstreuten. Auch Auge in Auge mit dem Kopf des Chrysler-Gebäudes, 320 Meter über der Straße, fällt uns kein Vergleich ein für die halbrunden, einander überlagernden Scheiben; wie haben wir nur von unten an Zwiebelscheiben denken können? Das südliche Brooklyn war beerdigt unter immer gleichen quadratischen Flachdächern, jedes umgeben mit entlaubten Heckenstrichen. Der Atlantik im Süden häkelte zierliche Fransen an das Land, Arme hinter Deichen, von Dämmen geteilte Augen im Rücken von halben Inseln, krumme schriftähnliche Zeichen im Moor. Über die Friedhofsfelder flitzte ein Streifen Sonnenlicht und blätterte die Grabsteine auf wie einen überschnell laufenden geheimen Film. Nach neun Minuten legte Kennedy International gefällig sich zurecht unter der Maschine. Angst war da nur um Marie. Wenn Karsch mit den Leuten von der Mafia spielen will, wozu muß er ihnen noch die Nummer unseres Telefons schenken! Hier an der äußeren südwestlichen Ecke von PanAm, sind wir verabredet. Wer das glaubt. Der vierte Hubschrauber, der im bockigen Wind angehüpft kam, war der vom Flughafen Newark. D. E. sah verkleidet aus unter seinem blauen Tuchhut, der saß ihm ganz oben auf dem Kopf wie zum Spaß. Aber er zeigte eine finstere Miene, er blickte reinweg drohend um sich. Zum ersten Mal sahen wir ihn aufgeregt, ratlos, besorgt. - Und danke dir für das ausgezeichnete Wetter: sagte D. E.
Soll ich es für dich erledigen, Gesine.
Nein, und danke fürs Fragen, D. E.
Ich möchte es jetzt wohl sagen.
Ich kann es besser glauben, wenn es nicht ausgesprochen
ist, D. E.
Die ganze Zeit im Bus, bis zur Tür der S. A. S. erzählte er von Hindernissen unterwegs, nicht in seiner üblichen raschen, witzsüchtigen Art. Er sprach langsam, mit übellaunigen Pausen, zum Mitdenken im Schreibtempo. Die anderen Passagiere konnten es leicht für das Abschiedsgespräch eines gelangweilten Ehepaares halten. Auf dem Weg zum Flugplatz war er also bei Oscar, etwas Vergessenes holen. Oscar hat den »Kastenladen« an der Abzweigung, und wie er D. E. des öfteren Alkohol gegen das Gesetz am Sonntag verkauft hat, so wird er ihm Bargeld geliehen haben. D. E. hatte auch getankt »wo wir immer tanken«. Das ist ein anderer seiner Freunde, die ihm Geld für persönliche Schecks geben. Die Banknoten sind also unverdächtig. Seinen Wagen hatte er leider etwas ungeschickt geparkt vor dem Flughafen Newark, und er wünschte sich nichts, als daß jemand den da abholte. Auf dem Bürgersteig vor der Abfertigung der S. A. S. übergab D. E. einen Luftpostbrief zum Einstecken, einen Ring mit Autoschlüsseln. Er kam nicht los ohne eine Umarmung. Er machte es nach der russischen Art, es war ein Zitat, aber er ließ sich mehr Zeit als ein Zitat braucht, mit beiden Armen um meine Schultern,
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