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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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für die eine Wange, für die andere, die eine noch einmal. - Paß auf das Kind auf! sagte D. E. mürrisch, bevor er davonzog, ein mächtiger Kerl, krumm vor Mangel an Reisefreude, ohne Verlangen nach Kopenhagen. Er sagt immer Kopenhagen, er sagt auch Reykjavik; es ist wohl eher Baffin Island, wenn nicht geradezu Grönland. Komm wieder, D. E. Gute Reise, D. E. Unter der Nummer SIX AUKS in Manhattan meldete sich niemand. Marie nahm erst nach dem fünften Klingeln ab. Da sprach sie wieder locker, ungeordnet, aufgeregt, wie ein Kind. - Ich werde bei der N. Y. Central Railway auf dich warten, dritter Schalter von links: sagte sie und setzte ein Klicken dahin, wo sie keine Antwort wollte. Die will mit, das werden wir ihr abmachen müssen. Der Hubschrauber, der nach Manhattan zurückflog, war spärlich besetzt. Gedeckt durch Lehnen zog ich die Klappe des Luftpostbriefs auf. Es waren eine Menge Scheine, alle unter 50 Dollar, die meisten so schmutzig, als seien damit Fußböden gewischt worden. Und es waren nicht zweitausend, es waren zweitausendvierhundert. So ist D. E., jedes Mal vom Guten zu viel.
    – Das schicken wir uns mit der Post: sagte Marie in der Halle des Grand Central, ein etwas fahriges Kind, das Gesine über die Schulter sah, auch seitwärts nach Beobachtern suchte und am liebsten ein Auge im Rücken gehabt hätte. - In einem Luftpostumschlag, von New York 10017 nach New York 10025? sagte ich. Aber die Frage lenkte Marie nicht ab, sie sagte: Wenn ich dir die Adresse nicht sage, kannst du dir deinen Karsch sauer kochen: wie D. E. so richtig sagt.
     
    – Du willst mich erpressen.
    – Ich will mit.
    – Sei doch tapfer.
    – Ich kann nicht tapfer sein, allein zu Hause und warten. Mit dir, bei dir wäre ich ein bißchen tapferer. Das verspreche ich.
    – Dann versprich mal.
     
    Es hatte noch gar nicht viel gekostet: zwei Fahrten mit der Ubahn, fünfzehn Dollar für den Flug an die Jamaica Bay, nun drei Dollar für das Taxi zum Luftbahnhof der Westseite, nun fünf Dollar für den Bus zum Flughafen Newark. In Newark schickten wir uns das überzählige Geld als Telegramm nach Hause. D. E.s. Bentley war anfangs sehr schwer zu lenken. Die erste Adresse war eine Kaffeestube in einem Service-Zentrum an der Nationalstraße 1, kurz hinter Elizabeth, New Jersey. Tatsächlich lag da ein Zettel im Telefonbuch. Von da an war es ein Zusammenschnitt aus allen letzten Dritteln von Entführerfilmen: sie schickten uns zurück nach Newark, sie wollten uns in Passaic haben, sie wünschten uns in East Orange zu sehen, wir sollten eine halbe Stunde vor dem Flughafen Newark parken. Nach einer Weile entschlossen sie sich, uns anzurufen an den Treffpunkten, in die sie uns bestellten. Die Treffpunkte wurden von Mal zu Mal schmutziger, düsterer, den Filmen ähnlicher. Sogar Marie begann sich zu langweilen. Die Herren entschuldigten sich geradezu; sie hatten ihren Augen nicht trauen mögen, als sie den Bentley kommen sahen. Sie wußten unseren Namen immer noch nicht. Aber morgen werden sie wissen, wem der Wagen gehört. Das ging bis in den frühen Abend. Unterdessen fragte Marie nach einer Taufe in Jerichow vor vierunddreißig Jahren und nach den Besonderheiten der portugiesischen Sprache, und tat obendrein, als höre sie der Erzählung zu. In Roselle Park sollten wir uns zeigen in einer Bar, in der weibliche Gäste auffielen. Der Barmann wischte nicht nur einen Tisch für uns ab, auch die Stühle. Von der Theke kamen in einem fort ungläubige, verwirrte Blicke. Da hingen die Herren in langer Reihe auf Hockern, breite, eigensinnige Hinterteile, denen unter der Aufmerksamkeit einer Dame mit Kind nicht wohl war. Da stand mal einer auf und stelzte zum Telefon, steif wie vom Reiten, da stellte mal einer sich schräg und hielt ein Auge auf uns, wir mochten mit ihm verabredet sein, es war nicht deutlich. Als der Barmann uns eine neue Adresse zuflüsterte und wir die Trinkanstalt verließen, sie schienen alle recht erleichtert. Im Aufstandsviertel von Newark stieg ein Herr auf die hintere Bank des Wagens. Er wollte nicht gleich glauben, daß er mit Marie verhandelt hatte. Dann nannte er sie ein »fast kid«. Wie übersetzt man das? Besser, er hätte nicht recht. Es war dunkel genug, er war nicht zu erkennen. Er sprach nicht Jargon, nicht einmal fehlerhaft. Auf einem Tonband hätten wir der Stimme angehört, daß der Sprecher von italienischen Eltern aufgezogen wurde; leibhaftig in unserem Nacken war die Stimme unauffällig, schwer

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