Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
In ihrer Aufregung sagte Frau Erichson zu uns in einem fort »Kind«; es schloß aber ihren Sohn ein, den Professor und Berater der Armee. Am Nachmittag waren wir zurück auf dem Broadway, wo wir an ihm wohnen.
Wir kamen auf der östlichen Seite der 96. Straße aus der Ubahn nach oben, und ich erkannte Francines Blick an der Wiederholung. Ich wußte ihren Namen nicht. Sie stand dicht an dem Schaufenster eines Ramschladens, auf eine dauerhafte Weise, als werde sie sich den ganzen Tag dort aufhalten, auf sonderbar steifen Beinen, mit hängenden Armen, gar nicht entspannt. Sie hielt den Treppenschacht auf eine gleichmütige Art im Auge, als zähle sie die Leute nur, stückweise, ohne Interesse für ihre Unterschiede. Als sie Marie erkannte, faßte ihr Blick mit einem Mal zu, und ihr starres müdes Gesicht wurde locker, vorbereitet auf eine Miene. Aber sie wartete, bis Marie ihr zunickte, und grüßte so vorsichtig zurück, als fürchte sie schon damit zudringlich zu sein. Diesen Blick erkannte ich wieder. Oft an Nachmittagen um die Zeit, wenn die Arbeitenden hierher zurückkommen, stand an diesem Ausgang dies Mädchen, fast so groß wie Marie, eine »Gefärbte«, und sah mich jedes Mal an, als hätte sie mich erwartet, und wandte sofort das Gesicht ab. Einmal ging sie mir hinterher, in weitem Abstand, von Schaufenster zu Schaufenster der Delikatessenläden, über die 97. und 98. Straße und quer über den Broadway, und war verschwunden, als sei sie doch auf etwas anderes aus gewesen. Dann vergaß ich sie wieder, und im Vergessen blieben von ihrem Gesicht nur Einzelheiten übrig, die Farbe, die Schokolade heißt, das Haar, das nicht kraus wachsen darf sondern zu kuriosen Zöpfchen gedreht ist, die bei offenem Blick abwesenden Augen, sehr kräftig vorgewölbte Lippen, die Trauer zeigen mögen, oder nicht Trauer. - Das war Francine: sagte Marie.
Marie sagte:
– Sie steht da halbe Nachmittage.
– Sie steht da, denn sie kann nicht nach Hause.
– Zu Hause ist sie mit drei Kindern in einem Zimmer, und noch einer Mutter.
– Die Kinder sind zwei Brüder, fünfzehn und anderthalb Jahre, und eine Schwester von vierzehn. Es sind nur zur Hälfte ihre Geschwister, auch sie hat einen Vater für sich allein.
– Von den Vätern ist keiner da. Anders bekäme die Mutter auch keine Fürsorgeunterstützung, das ist Gesetz.
– Heute steht sie sicherlich da, weil Feiertag ist.
– An Feiertagen kommt manchmal der Vater ihres jüngsten Bruders und bringt Wein mit und trinkt den Wein mit der Mutter und schläft mit der Mutter in einem Bett.
– Es stört sie nicht mehr, außer vielleicht an einem Feiertag. Truthahnbraten, eine Torte, vielleicht will sie nicht sehen, daß es bei ihnen fehlt.
– Ihr Taschengeld ist zwanzig Cent, alle vierzehn Tage, wenn der Scheck von der Fürsorge gekommen ist.
– Es war auch eine Zeit, da stand sie an der Ubahnstation und wartete auf ihren Vater. Sie weiß nicht wie er aussieht, er ist nach ihrer Geburt nicht wiedergekommen. Sie weiß, daß er Benjamin heißt, und sie denkt, sie müßte ihn erkennen.
– Ihre Mutter sagt ihr nichts über diesen von den Vätern. Einmal hat sie sich verquatscht. So weiß Francine, daß er vor zwölf Jahren in der 102. Straße West ein Hotelzimmer hatte.
– Wenn sie zu Hause ist, muß sie ihre Schularbeiten auf einem Teebrett, auf den Knien machen.
– Am meisten stört ihr kleiner Bruder, der von dem vierten Vater. Sie muß ihn trockenlegen, ihn umhertragen, zu Bett bringen.
– Die Mutter kümmert sich nicht um die Kinder. Sie läßt den T. V. laufen von morgens an.
– Wenn die Mutter keinen Besuch hat in der Nacht, schläft der älteste Bruder in ihrem Bett und Francine mit der Schwester und dem Kleinen in dem anderen.
– Es sind nur zwei Betten in dem Zimmer. Der älteste Bruder muß bei der Mutter schlafen, seit er versucht hat, mit Francines Schwester es zu machen.
– Du weißt schon.
– Er hat mit ihr noch einmal es gemacht, und die Mutter hat ihn geschlagen. Das war vor einer Woche, und seit dem ist er nicht mehr nach Hause gekommen.
– Vielleicht wartet Francine auf diesen Bruder an der Ubahn.
– Sie spritzt sich aber nicht Gift in den Arm wie er.
– Er hat damit schon vor zwei Jahren angefangen, mit zwölfeinhalb.
– Das sind meistens Jungen in einer Bande, die setzen sich auf den Dächern zusammen und tun es gemeinsam.
– Er hat es dann Francines Schwester beigebracht.
– Die hat jetzt Angst.
– Sie hat Angst, weil sie
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