Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
verordnete er die Todesstrafe für Mißbrauch von Uniform oder Abzeichen der hitlerschen Privatarmee, und setzte Sondergerichte ein. Nun hatte Hindenburg genug unterzeichnet, nun konnte Hitler die tatsächliche Staatsmacht angehen. Denn der Staat der Nazis war noch nicht fertig, als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde; das glaubten bloß seine Anhänger. Andere wollen den Anfang auf die Märzwahlen legen; da hatte Hitler aber nur 43,9 Prozent der Stimmen bekommen, weniger als die Hälfte. Wir legen die Einführung der perfekten Diktatur auf den 24. März. An diesem Tag nahm der deutsche Reichstag, soweit er nicht in Haft war, das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« an, ein Gesetz, mit dem das Parlament auf seine Rechte verzichtete und sie der neuen Regierung übertrug. Von nun an konnte Hitler nach Belieben seine Einfälle mit Rechtskraft versehen, und er begann also gleich im März mit der Auflösung der Länder und wollte ab sofort Hinrichtungen möglichst mit dem Strick vollstreckt wissen und brachte es bis zum Oktober 1939 auf 4500 von seinen Gesetzen und benutzte den Reichstag lediglich als Gesangverein, den teuersten der Welt, mit einem Repertoire von insgesamt zwei Liedern, das eine die Nationalhymne von damals und das andere einem Funktionär der S. A. gewidmet, der daran starb, daß er einem Zuhälter die Hure weggenommen hatte, also sein Leben für Deutschland ließ. Dies waren die Angebote, die die deutsche Reichsregierung Herrn Heinrich Cresspahl, Richmond/England, für den Fall seiner Rückkehr noch nachträglich unterbreitete im März 1933.
Als Perceval begriff, daß die Frau des Meisters nicht in ein paar Tagen und nicht in einigen Wochen nachkommen würde, kündigte er seine Stellung. Er ließ sich auf eine Begründung nicht ein, mochte aber Cresspahl nicht in die Augen sehen. Als er das Zeugnis in Händen hatte, blieb er der Werkstatt fern von einem Tag auf den anderen. Mr. Smith hatte ihn während der drei Wochen streng am Arbeiten gehalten, so daß die verbliebenen Aufträge zur Not ohne ihn fertigzumachen waren; dennoch begann der Junge Cresspahl zu fehlen. Er wußte noch fünfzehn Jahre später zu erzählen, daß Perceval zu denen gehört habe, die bei aller Körpergröße und bei allem Essen ein eckiges, knochiges Aussehen behalten. Sehr große Ohren. Ganz helle Haut im Gesicht, durch die das Blut rasch hindurchschlug. Wenn er eine Last hob, sah er am ganzen Leibe verzerrt aus; oft vergaß er, nicht nur Kraft für die Arbeit zu gebrauchen. Seine Arbeiten mußten nachgesehen werden; vielleicht hatte er nicht das Zeug zu einem selbständigen Tischler. Ihm habe weniger die Arbeit Spaß gemacht, als das Lob für die Leistung; das Lob aber habe er geradezu eingefordert. Cresspahl fragte bei Gelegenheiten in der Stadt, aber Perceval hatte nicht in Richmond sich um Anstellung beworben. Die Eltern aber kamen zu Cresspahl und wußten von seinem Verbleib nichts. Perceval kam nicht wieder. Allerdings wurden Cresspahl in einer Nacht Mitte April die Scheiben im ersten Stock (wo Lisbeth das Wohnzimmer gehabt hatte) nicht ohne Sorgfalt eingeworfen, aber er wollte das von Perceval nicht glauben. Das schweigende Weggehen paßte besser: dachte Cresspahl.
Im April beschloß die deutsche Reichsregierung das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und Anderes, um das Cresspahl sich nicht kümmerte, weil sein Beruf nicht betroffen schien. Am Ersten April, in diesem Lande der Tag Aller Narren geheißen, stellte die deutsche Reichsregierung Posten ihrer Privatarmee vor die jüdischen Geschäfte in Deutschland, versuchte Kunden mit Boykottplakaten oder handgreiflich am Betreten der Läden zu hindern und fotografierte sie bei der Rückkehr durch die Tür. In Jerichow gab es in der Kurzen Straße einen Laden für Arbeitskleidung, der einem jüdischen Ehepaar gehörte (Cresspahl wußte den Namen nicht). Konnte er sich nicht vorstellen, daß die Leute in Jerichow in einem Halbkreis um den Schauplatz standen, an der Tür zwei Arbeitslose in Uniform und dazwischen Ete Helms, der als Stadtpolizei darauf achten mußte, daß alles ordentlich ablief? Gewiß, Cresspahl war lange nicht in Malchow gewesen, und noch seltener zum Kaufen; er mochte die jüdischen Geschäfte da nicht erinnern. Ob er für möglich hielt, daß die großen Fotografien in den londoner Zeitungen nur für Berlin wahr sein mochten, nicht aber für Mecklenburg? Dieser Art waren die Angebote, die Herrn Heinrich
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