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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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denkt, sie kriegt ein Kind.
    – Zuerst hat sie mit einem Freund auf der Toilette sehr oft es gemacht, damit sie ein Kind kriegte. Sie wollte eins, damit die Fürsorge ihr ein eigenes Konto gibt und sie ohne die Familie und allein in einem Zimmer für sich leben kann.
    – Aber jetzt will sie kein Kind mehr. Sie hat sich überlegt, daß sie noch nicht genug weiß, was sie dem Kind sagen kann.
    – Francine sagt, sie spritzt sich nicht.
    – Francine sagt, in ihrem Haus ist eine Bande von Mädchen, die halten einem das Messer an die Kehle, wenn man nicht mitspritzen will.
    – Deswegen steht Francine lieber auf dem Broadway, wo die Polizisten hingehen.
    – Nach oben geht sie nur, wenn ein Erwachsener auf der Treppe ist, dem sie traut.
    – Sie traut aber wenigen. Da sind viele, die haben es mit dem Rauschgift, oder mit Wermut oder mit … ich weiß das Wort nicht.
    – Das Haus ist in der 103. Straße West, hier bei uns um die Ecke.
    – Da sind die alten Wohnungen alle zu Zimmern umgebaut, und in jedem wohnt so eine Familie.
    – Der Hauswirt sitzt in seiner Wohnung bei offener Tür. Das ist wie ein Büro, mit einer Theke. Nur daß über der Theke kein Glas ist, sondern Maschendraht. Da muß man ihm die Miete hindurchreichen.
    – Weiter bin ich nicht mitgegangen.
    – Es ist nicht, daß ich vor dem Zimmer Angst habe. Schaben sind bei uns ja auch. Auch nicht vor dem ältesten Bruder. Ich habe Angst, die Mutter ist unfreundlich zu mir. Als wenn ich an allem schuld wäre.
    – Francine ist jetzt viel besser im Unterricht.
    – Ich habe ihr die Städtische Bücherei in der 100. Straße gezeigt, und bin mit ihr hingegangen, weil sie allein nicht wollte. Dann hat die Bibliothekarin ihr sofort eine Karte gegeben und gesagt, sie darf da lesen und auch schreiben, zu den festgesetzten Öffnungszeiten. Die sind ja nicht immer.
    – Jetzt ist Francine mir schon wieder dankbar: sagte Marie.
     
    »Ein Fallschirmjäger, verwundet, fiel über die Mündung seines Flammenwerfers und war in Brand gesetzt« meldet die New York Times aus Viet Nam. Werden wir eines Tages vergessen haben, daß wir es in der Zeitung lesen konnten? Ist es schon heute noch wirklich?

24. November, 1967 Freitag
    Der Dollar kriegt weiterhin Schläge. In London und Paris kaufen sie Gold wie die Verrückten. Übrigens schätzt die New York Times die privaten Investitionen des Landes in Europa auf 10 Milliarden Dollar seit 1958 und beschreibt die Verbreitung hiesiger Gewohnheiten von Schweden bis Spanien. Als Beispiele für europäische Einflüsse hierher nennt sie den Genuß eines Château Mouton Rothschild oder des spanischen Riscal sowie auch ein gewisses Verständnis für den überseeischen Tick mit den Bidets.
    Nachdem die U. S. A. endgültig die Höhe 875 in Viet Nam genommen haben, belaufen sich ihre Verluste seit dem 1. Januar 1961 auf 14 846 Tote und 93 227 Verwundete, von denen jedoch nur 49 312 stationärer Behandlung bedurften.
    Zum ersten Mal ist die Wirkung von L. S. D. auf menschliche Embryos dokumentiert. In Iowa ist ein Mädchen geboren worden, dessen rechtes Bein ist kürzer als das linke und sitzt falsch an der Hüfte, und der rechte Fuß ist zu kurz und hat nur drei Zehen. Die Mutter, 19 Jahre alt, hat die Droge nur viermal während der Schwangerschaft eingenommen.
    Die Zypernkrise ist der New York Times wichtig genug für die Spalte 8 auf der ersten Seite. Das Bild von den griechischen Panzern hat sie über das von den türkischen Truppentransportern gesetzt. Offenbar sollen wir uns mit der Sache befassen.
    Marie will es nicht billigen, daß Cresspahl noch acht Monate unterschlug in Richmond, Greater London. Sie verlangt, daß die Leute zusammen leben, sind sie einmal verheiratet. Hier hat sie Vorstellungen von Ordnung.
    Cresspahl konnte acht Monate von außen zusehen, wie die Nazis ihren Staat einrichteten. Er muß es wahrgenommen haben. Seit er in den Städten war, hatte er die Zeitungen gelesen, wenn auch mehr auf die bäuerliche Weise: erst nach der Arbeit, nur wenn zuverlässig keine nützliche Beschäftigung anlag, langsam, nahezu wie eine Erholung und mit festwurzligem Mißtrauen, das den Befund über Wahrheit der Nachrichten den eigenen Augen vorbehielt. Aber er hatte ja gesehen, was die Meldungen aus Deutschland ihm fortsetzten.
    Was er vom März verpaßt hatte, lieferten die londoner Blätter ihm gehörig nach. Am 21. März verordnete der deutsche Reichspräsident Straffreiheit für Verbrechen der Nazis. Am gleichen Tage

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