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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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für jene Ingrid Babendererde nicht nur in Schlußfolgerungen, auch in Gefühlen ausgewertet; im Grunde jedoch wünschen sie abstrakt, es werde ihnen eine vollkommene Revolution übergeben, human in der Ausführung, humanistisch in der Auswirkung. Es gibt sich rational als das Verlangen nach etwas Drittem, es ist ähnlich sentimental wie das Unternehmen dreier dieser Freunde, das sich auf das vorhandene Zweite richtete: ein Jahr lang teilten sie die Memoiren unter sich auf, die die Überlebenden der Stalinschen Straflager geschrieben haben, nur um herauszufinden, ob die sowjetische Geheimpolizei die Schauspielerin Carola Neher selbst umgebracht hat oder das von Hitlers Geheimer Staatspolizei besorgen ließ. Sie wünschten ihr Verhältnis zu gewissen Behauptungen und einem gewissen Schweigen des Dichters Brecht genauer einzustellen. Der Club der Carola Neher. Der eine war ein Däne. Der andere lebt in England, Prof. Dr. Dr. Harry Wittenberg, aus einer jüdischen Familie, die 1934 aus dem Deutschland der Nazis floh; der in D. E.s Testament genannt ist. Es ist eine Haltung, die längst auf den individuellen Protest verzichtet hat und damit auf eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse; sie kann von ihren Beweisen prächtig leben und ähnelt doch dem, was früher »kleinbürgerliches« Denken hieß, was D. E. mir im Scherz nachsagt.
    Er tut es im Scherz. Er nimmt sich nicht heraus, mich zu kennen. Wenn ich etwas tue, das er für mir eigenartig hält, er lächelt und erkennt etwas wieder, jedoch tut er es offen. Er steckt nicht Beobachtetes heimlich weg. Wenn er von mir sich ein Bild gemacht hat, so von kaum mehr als meinen Bedürfnissen (wie er sie versteht). Er zeigt Vieles, das ist erträglich, davon das meiste ist erheiternd. Er spricht nicht mit Marie über ihren Vater, nicht einmal mit mir; jedoch weiß er alles, was über Briefwechsel mit Freunden in Mecklenburg aus Jakobs Leben zu erfahren ist. Er trinkt für siebzig Dollar im Monat, jawohl, und wem das mißfällt, der vermöchte es nicht; und wenn er allein ist dabei, bestraft er sich und stellt seinen Beaujolais kalt. Auch er hat seine ureigenen Vorurteile und bringt sie vor wie sorgfältige Beobachtungen oder unbezweifelbares Wissen, so nennt er die D. C.-8 das tüchtigste Flugzeug von allen und weiß vom Fliegen doch nicht mehr, als man für die Lizenz zum Führen eines einmotorigen Propellerflugzeugs benötigt. Er macht das hiesige Spiel mit, in dem Jeder sein Geld zeigen soll, er zeigt ein Haus, er zeigt einen Bentley; aber das Haus erwirbt er auf Raten, das Auto ist aus zweiter Hand und die Fliegerei betreibt er mit geliehenen Maschinen. Alle Zeit genießt er es, die Nachbarn über die Ersparnisse zu täuschen. Er benimmt sich gleichmäßig; er gerät nicht in Wut. Aus seinen Besuchen bei uns hat er keine Gewohnheitsrechte abgezogen; er kommt wie ein Gast. Er ist nicht eifersüchtig; nur was in meinem Denken passiert, das wüßte er gern allein, oder doch als Erster. Vieles weiß er allein. Was will er noch? Kann er nicht sich ausruhen auf seinen berühmten Liebschaften, und möchte bequem zu einer Familie kommen, in der schon ein Kind ist, und gleich eins, das ihn schon versteht? Er sagt: Nein. Soll ich in aller Muße, von ihm finanziert, machen was er nicht kann: ein Leben für nur eine Person? Er würde antworten: Meinetwegen. Er würde mir sogar die Schaustellerei ersparen, das social life. Er will von mir nicht einmal Kinder. Geriete ich bei ihm in einen Käfig, er wäre nach meinen Maßen und nach meinen Angaben gefertigt, bis zu den beliebigen Konten und Kreditkarten. Nur, wozu braucht er Jemanden zum Leben?
    Marie ertrüge es. Sie hielte es aus mit ihm in einer Wohnung, in einem Haus. Auf der Themsepromenade bei Richmond gingen sie vor mir her wie immer, ganz ohne Sorgen nebeneinander. Sie war nicht nur stolz auf den schwarzen Mantel mit dem Pelzkragen, den er ihr an der Regent Street gekauft hatte; sie war außer dem zufrieden, in der Gesellschaft dieses eleganten Herrn gesehen zu werden. Sie lachten in ihrem Gespräch, und allein in Maries Kopfwendung zu ihm ist genußvolle Neckerei. Marie hielt beim Gehen die Hände auf dem Rücken, weil er es so machte.
    Das glaube ich. Das andere glaube ich nicht.
    Heute hat D. E. sich gemeldet aus dem Norden, in einer sonderbar geräumigen Leitung, die seine Stimme ins Zimmer brachte wie anwesend. Er ist in einer anderen Zeit, und dennoch hat er genau die Viertelstunde erwischt, in der unser

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