Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
und sieht hinunter auf die halbnackten Kinder, die in den straffen, sich kreuzenden Wasserstrahlen aus drei Düsen umherlaufen. Sie wartet auf Mrs. Ferwalter, die im Sommer hier die Sabbatvormittage zubringt. Wenn sie sich halb umwendet, kann sie zwischen den Blättern das Fenster mit dem blauen Vorhang sehen, hinter dem D. E. seinen Wein ausschläft, nackt über das ganze Bett gebreitet, die Arme lang an den Seiten, flach atmend mit böse vorgeschobenen Lippen, allein in der Wohnung.
Mrs. Ferwalter ist eine kleine, zu beleibte Frau, die Mutter von Rebecca, eine stämmige Person, die gern Hängekleider in roten Farben trägt. Ihre Backenknochen stehen breit, die Stirn ist schmal über fast schwarzen Augen und Brauen, und der Schwung, in dem ihr Kopf zu einem engen Untergesicht verjüngt ist, erinnert an ihr Mädchengesicht. Jetzt ist es zugepackt mit Alter, festgehalten in einem starren Ausdruck von Abscheu, den sie nicht ahnt. Sie ist vom Jahrgang 1922, sie sieht aus wie eine Sechzigjährige. Vor sechs Jahren auf diesem Spielplatz hörte Mrs. Ferwalter Gesine deutsch sprechen mit ihrem Kind, und stand auf von der benachbarten Bank, kam heran auf ihren dicklichen Beinen, schwer auftretend, und setzte sich neben Gesine. - Mag sein mein Kind kann spielen mit yours: sagte sie gutmütig, in einem Akzent, der fast russisch klang. Sie sah aus wie nach einer gefährlichen Krankheit. Ihr starkes braunes Haar war uneben kurz geschnitten, wie nach einer Schädeloperation. Sie trug ein Kleid ohne Ärmel, und als sie sich beim Hinsetzen aufstützte, sah Gesine die Nummer, die innen in ihren linken Unterarm tätowiert war. Sie wandte den Blick ab auf die umfänglichen Beine der Frau, in denen aber Krampfadern hervortraten.
Du bleib sitzen. Du weißt nicht, warum ich Gronberg wegschicken mußte. Du weißt nichts.
Wenn ich gewußt hätte wie gut die Toten reden haben. Die Toten sollen das Maul halten.
– Ich bin aus Deutschland: hatte Gesine gesagt, und Mrs. Ferwalter hatte geantwortet, seufzend über die trockene Wärme oder sehnsüchtig: Hab ich geheert. Europa …
Sie hatte längst Rebecca herangerufen, damals fünf Jahre, ein sittsames Kind mit den Haaren der Mutter, einer Puppe ähnlich mit ihrem kleinen mißtrauischen Mund, ihren schwärzlichen Augenbrauen, dem großen steifen Kragen, dem gebügelten Jackenkleid, und wie eine Puppe eckig machte sie ihren Knicks vor Gesine. Marie kam vorsichtig, mit gegeneinander versetzten Schritten, wandte sich mitunter halb weg, wurde aber mit der Neugier nicht fertig. Beide Kinder hielten die Hände auf dem Rücken und betrachteten einander geringschätzig, aber Mrs. Ferwalter befahl streng: Go and play nicely! und ergeben nahm Rebecca das fremde Kind mit zu den Schaukeln. Mrs. Ferwalter begann Marie zu loben: Ihr Kind ist so ruhig. Es rast nicht umher. Es schreit die Mutter nicht an. Es ist nicht amerikanisch. Es ist europäisch. Es ist eine gute Erziehung, die europäische: hatte sie gesagt in ihrem gebrochenen Englisch, gebrochenen Deutsch und den beiden Kindern hinterhergesehen aus ihren immer verengerten, fast blinzelnden Augen, die kleinen Lippen flach in angewiderter Spannung.
Mrs. Ferwalter ist aus einem ruthenischen Dorf, dem Osten der Slowakei, »wo die Juden saßen wie in einem Nest«. Sie betont, daß es ein »gutes« Dorf war. Die Christen duldeten die Andersgläubigen, und das fünfzehnjährige Mädchen wurde im christlichen Ende nicht einmal abends von den halbwüchsigen Jungen belästigt. Nach ihren Eltern können wir sie nicht fragen. »Ich war nicht hübsch. Man nannte mich apart.« »Das Haar ging mir bis ans Kreuz.« 1944 wurde sie, wahrscheinlich von den Ungarn (danach können wir sie nicht fragen), ausgeliefert an die Deutschen. Die Deutschen brachten sie in das Konzentrationslager Mauthausen. »Eine von den Aufseherinnen, die war so gut, sie hatte fünf Kinder und mußte das alles ja.« Sie meint eine S. S.-Wächterin. Danach können wir sie nicht fragen. Auf einem Foto von 1946 hat sie das Gesicht einer Fünfunddreißigjährigen, mit glatter Haut. Sie versuchte in der Tschechoslowakei zu bleiben und heiratete 1947 einen Sattler, der in Budweis ein kleines Geschäft mit Lederwaren betrieb. Der Putsch der Kommunisten machte das Land unsicher, in dem sie aufgewachsen war, und über die Türkei, Israel, Canada kam sie 1958 in die U. S. A. Die Ärzte nennen das Fett in ihren Schultern, ihrem Nacken, am ganzen Leibe einen Ausdruck des KZ -Syndroms. Zu diesem
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