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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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»Eulwenzwang« bei Hunden gebeten, und er, Rammin, hatte das aus dem Brief abgeschrieben wie Beatus es von seinem Tierarzt gehört hatte und die Bestellung auf einer offenen Postkarte an Dr. Semig geleitet. Dr. Semig hatte sich am Telefon noch einmal erkundigt nach den Beschwerden jenes Hundes in Österreich, und Rammin hatte beschrieben, daß Beatus’ Weimaraner nicht davon ablasse, den Kopf auf eine jämmerliche Weise gegen die Erde zu drücken. - Aha. Schmerzen im Gehörgang: hatte Semig befunden in seiner widerlich sachverständigen Art, hatte das Medikament gefunden und besorgt von einer Küchenfirma im Württembergischen und hätte es wohl mit Rechnung nach Gut Beckhorst geschickt, wäre Rammin nicht ohnehin an diesem Sonnabend in Jerichow unterwegs gewesen und überdies so neugierig, was denn »Eulwenzwang« bedeuten mochte. Semig mit seinem widerlichen Takt hatte ihm das Päckchen ohne Aufhebens in die Hand gedrückt und nicht einmal mit der Wimper gezuckt, als Rammin seine Frage nach dem befremdlichen Namen der Krankheit ansetzte und abbrach, als er auf dem Etikett das Wort Ohrenzwang erkannte. Die Verabschiedung hatte der Reichsfreiherr noch leidlich bewältigt, aber als er in Semigs Hof auf den Kutschbock kletterte, nahmen ihm aufgebrachte Gefühle fast die Besinnung. Es half ihm nicht, daß er nicht Hunde züchtete, sondern Pferde; dank der österreichischen Sprache stand er jetzt vor einem Akademiker (Jude hin. Jude her) da als jemand, der nicht schreiben und nicht denken konnte. Besonders unerträglich war ihm, daß dieser Semig die offene Postkarte nicht umherzeigen würde, der feine Pinkel, vornehm bis zum Verrecken. Rammins Pferde, von ihm in Richtung von Doras Wirtschaftsgarten in Gang gesetzt, begriffen auch ohne Zügelhilfe, daß sie nur in einer halben Wendung aus diesem Hof kommen würden, und zogen den Wagen fürsorglich auf die Ausfahrt. Herr von Rammin erkannte an der Straße Braununiformierte, beschäftigt mit einer alten Frau, die einen zugebundenen Korb nicht hergeben wollte. Dann bemerkten sie den Kutschwagen und stellten sich vor dem Tor auf. Sie riefen irgend etwas. Sie störten die Pferde beim Gehorchen. Jetzt quirlte das freiherrliche Blut Rammin verschiedene Worte hinter der Stirn zusammen, daß er fast blind war; die Blamage durch das Österreichische vermischte sich mit dem unbotmäßigen Betragen der Landsknechte jenes Österreichers Hitler, darein rührte sich mit der Hundeart Weimaraner die Wut auf die Weimarer Republik, und beide Pferde hatten sich damit abgefunden, daß sie diesmal eben über Menschen sollten und waren in vollem Lauf auf die Straße hinaus. Ossis Untergebene sahen was ein Kind erkennen konnte; sie stürzten nach beiden Seiten auseinander. Ossi Rahn hatte einmal gesehen, daß man Pferde zum Stehen bringt, wenn man sie irgend wo anfaßt, aber er wußte nicht wo, und Rammins rechter Fuchs in seiner Verwirrung schlug zu wie ein gutmütiger Mensch in Notwehr. Dann sah Ossi Rahn nichts mehr, weil ein sorgfältiger Peitschenhieb ihm beide Augen geschlossen hatte. Die Zeugen erinnerten sich später des scheußlichen Knackens, mit dem das rasch drehende Rad gegen Semigs Eckstein geknallt war, und daß Ossi, flach auf der Seite am Boden, sich nur angestellt hatte, als sei das Rad über sein linkes Bein gegangen. Von Rammins Gespann tobte zwischen den stillen Gärten der Bäk hindurch wie das leibhaftige Gewitter und riß den Wagen an der Ecke zur Schulstraße gegen den Bordstein, daß er in der Kippe stand und nicht gleich aufs Pflaster zurückfand. Dann hatte von Rammin die Pferde wieder in der Gewalt. Auf der Fahrt nach Beckhorst dachte er nach über ein Gesicht, das er inmitten der Zuschauer erkannt hatte. Denn er hatte zwei lichte Momente gehabt, einmal als er Methfessels Blick erwischte, und das andere Mal, als er hineinschlug in eines jener Gesichter, die er immer vom Pferd herab gesehen hatte, mit dem deutlichen Gedanken: Pack pariert. Zu Hause war er ruhig genug für einen Brief an Beatus Nagel über Eulwenzwang und die österreichische Nation, von der er sich also förmlich verabschiedete.
    Ossi Rahn lag noch, als Dora Semig mit ihren eigenen Händen die Torflügel schloß. Er hielt sich das Bein und jammerte. Seine Untergebenen halfen ihm hoch und lehnten ihn gegen Semigs Vorgartengitter; sie hatten ihn nur ganz kurz angefaßt und waren gleich beiseitegetreten. Ossi Rahn dämmerte es, daß er vor Frau Semigs Füßen im Dreck gelegen hatte. Er wollte nichts

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