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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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der Havel, und Roswitha Rahn hatte die Fahrkarten mit Geld aus der eigenen Tasche bezahlt; nun galt das Gerücht als erwiesen. Methfessel war ein wenig ins Saufen gekommen und ließ sich eines Abends im Krug vernehmen über die Gerechtigkeit im Neuen Reich. Methfessel wurde nach Fürstenberg gebracht, damit er einen Augenschein bekam. Als er nach vier Wochen zurückkam, wollte er nichts erzählen, nicht einmal ob er Ossi Rahn begegnet war. Das mochte Lisbeth Cresspahl nicht aus Jerichow nach Richmond schreiben.
    Nu sech doch mal so, Methfessel.
    Kannssu schweign, Frieda?
    Bün doch din Fru. Wie ein Grab.
    Denn grab dich keins.
    Die junge Frau Cresspahl wußte, daß Keiner aus Jerichow an ihren Mann schrieb, schlicht um ihr nichts vorwegzunehmen. Sie wußte, daß Cresspahl auf Nachrichten von ihr angewiesen war, wollte er nicht sich auf die Zeitungen verlassen. Ihr war bewußt, daß er nach seiner Rückkehr Erklärungen verlangen würde, schon aus seiner unbegreiflichen Neugier auf alles, was sie tat und dachte; nicht einmal sie selbst wurde aus sich klug. Da kam Besuch zu Papenbrocks, da wurde das Neueste aus der Feldstraße erzählt, und sie konnte es nicht in einen Brief bringen, und hatte schon den Anfang versäumt. Wenn Papenbrock beim Frühstück ihr einen Brief aus England über den Tisch reichte, konnte sie zusammenzucken. Sie meinte, es sei ihr nicht anzusehen, bis der Alte sich ihre Zappeligkeit verbat. Er sah nicht genauer hin. Wie die anderen sah er in ihr die verheiratete Frau, die ihren Kinderwagen in Jerichow spazieren schob und von den Leuten eine neue Art Respekt einforderte. Tatsächlich sagten alle Frau Cresspahl zu ihr, inzwischen ohne vor der veränderten Anrede zu stocken oder sie mit beiläufigem Lächeln zu versehen, und kaum Einer mochte vermuten wie verwirrt sie war.
    Sie war so durcheinander, sie merkte sich Dinge tun, die sie nicht geplant hatte. Einmal zog sie mitten am Tag alles aus, was sie auf dem Leib hatte, und richtete sich den großen Spiegel im Teezimmer so, daß sie sich von Kopf bis Fuß mustern konnte. Das Kind war ihr fast nicht mehr anzumerken. Das Kind hatte sie für Cresspahl getragen; das war eins von den erfüllten Versprechen. Warum war das nicht genug?
    Sie hatte Cresspahl zugestanden, daß er Semig als Taufpaten für das Kind bestellte. Warum war ihr Einverständnis nicht ausreichend gewesen? Jetzt hatte Cresspahl es bequem in England, und wollte, daß sie an seiner Stelle sich vor die Semigs stellte. Ja, sie hatte nach dem 11. April, Semigs Entlassung, nur einmal an seiner Tür sich sehen lassen; ihr waren nicht die Blicke seiner Nachbarn in der Bäk unbehaglich gewesen, Semigs Haus war ihr schwer erträglich. Es war immer still gewesen, offenbar wollten Semigs ohne Kinder auskommen; jetzt fehlte über dies noch das Hantieren des Dienstmädchens in der Küche, das Anschlagen von Türglocke und Telefon, das Einfahren von Wagen in den Hof. Und Semig hatte so eine Art, aus Höflichkeit für zehn Minuten aus dem Sprechzimmer zu kommen und dann doch schweigend im Salon zu sitzen, mit abwesendem Blick auf seine aneinandergestellten Fingerspitzen. Er sah auch fremd aus, seit er sich das kleine viereckige Bärtchen unter der Nase abgenommen hatte. Und Dora kehrte die Köstersche heraus, der Besuch mochte noch so gutmütig das Unrecht an Semig als Unrecht abtun; Dora hielt den Blick beiseite wie eine alte Lehrerin, die gegen unverbesserliche Unarten sich taub stellt. Während dessen hörten sie Semig nebenan in der leeren Praxis hin und her gehen. Lisbeth hatte nur angedeutet, daß Cresspahl womöglich das Auto kaufen werde, das eben erst an Dr. Semig ausgeliefert worden war und für das er nun nicht Verwendung hatte. Die Semigs faßten alles als Mitleid auf, ob es nun der Besuch war oder ein Angebot von Hilfe. Die waren so mit ihrem Unglück beschäftigt, sie hörten nicht einmal zu. Cresspahl stellte sich einen Umgang mit denen vor als leicht und bloß anständig. Er ahnte nicht, wie schwer es ihr fiel.
    Früher hatte ihr Beten geholfen. Nun hatte sie ihre Petrikirche am Ort und konnte auf ihrem gewohnten Platz sitzen und kam doch nicht beruhigt nach Hause. Ihre Bitten waren genau und mutlos. Sie betete, daß Pahl nicht so sich den Nazis an den Hals schmeißen möchte mit seinen Maßuniformen zu Freundschaftspreisen. Sie betete, Edith sollte aufhören können mit dem Stehlen in Louise Papenbrocks Speisekammer. Sie betete, daß Käthe Klupsch nicht so gotteslästerlich in den

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