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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Cresspahl kam zu sprechen auf Äußerungen Goslings, nachweisbar vor Zeugen getan und gegen Cresspahls Geschäftsgebaren gerichtet (dies erfand er in dem Moment, da er es aussprach). Es kam heraus, daß Gosling in der Tat nicht nur gegen die Deutschen sondern insbesondere gegen diesen gehetzt hatte, denn Gosling legte den schwarzen Hut ab. Er hängte seinen etwas zu großen Regenschirm an die Werkbank. Er gab Cresspahl die Hand. Er entschuldigte sich. Er habe seine irrige Haltung einzusehen. Er bedaure sie, nachdem gerade die deutsche Nation der Welt vormache, wie Ordnung zu Hause zu schaffen sei. Er nannte es einen Jammer, daß England den Mosley verkenne. Der Mosley war der Führer der britischen Faschisten. Cresspahl gab einen Streit mit Gosling auf.
    Hätte er Gosling zu einer Kündigung aus Wut gebracht, wäre er gleich frei gewesen.
    Cresspahl kündigte eine Woche später bei Burse, Dunaway & Salomon. Nun konnte er erst nach einem halben Jahr reisen.
    Wenn ihm um Bedenkzeit zu tun war, so hatte er sich reichlich damit eingedeckt.
    Nich, Gesine?
    Oder sollte Lisbeth sich besinnen können?
    Nich, Gesine?
    Du hattest noch was vor in Richmond, Cresspahl!
    Nich, Gesine?

25. November, 1967 Sonnabend
    Heute meldet uns die New York Times, daß gestern der Feldmarschall Eric von Manstein, der Planer des deutschen Blitzkrieges gegen Frankreich im Jahr 1940, in Hirschenhausen in Westdeutschland seinen 80. Geburtstag markierte. Die Notiz steht am Ende des täglichen Kriegsberichtes aus Viet Nam.
    Ein Ehepaar in Chico, Kalifornien, bekam aus Viet Nam einen Sarg mit einem fremden Mann statt des angekündigten Sohnes.
    Gestern mittag gingen zwei Volksvertreter in Harlem einkaufen und fanden ohne Mühe heraus, daß die Supermärkte dort in der Tat die Preise nach Zahltagen anheben, Waren mehrfach auszeichnen und aufgetaute Tiefkühlkost wie angegangenes Fleisch für durchaus verkäuflich halten. Die Vertreter der betroffenen Ladenketten haben sich wieder und wieder auf menschliches Versagen herausgeredet.
    Was hülfe es, wenn wir nicht mehr bei A & P kauften?
    Ende April 1933 stellte Dr. Berling der jungen Frau Cresspahl die Rückreise nach England frei. Er sprach, als hätte er niemals ihrem Mann zum Bleiben in einem veränderten Deutschland geraten. Er wusch sich die Hände in ihrem Rücken, so daß sie von seinem Gesicht nur die schweren bläulichen Backen sah. Sie konnte ihm nicht nachweisen, daß er sich erdreistet hatte, einer verheirateten Tochter eines Albert Papenbrock einen Rat zu geben. Sie war so verdutzt, daß Jemand ein Gegenteil von ihren Wünschen für etwas Vernünftiges ansah, sie sagte ihm nicht Bescheid, nicht einmal als er sagte: Und grüßen Sie den alten Schweden in Richmond! Kenn ich, Richmond. Bushey Park, die zahmen Hirsche … Se sünd jung, Fru Cresspahl. Måkn Se dor wat ut.
    Immerhin hatte sie nun etwas, das sie Cresspahl schreiben konnte. Nicht alles, eben nur die Grüße von Berling.
    Am Kind fand sie wenig für Briefe. Sie war mit dem Säugling viele Male am Tag zugange, sie konnte auch für Viertelstunden zusehen, wie diese dumme Gesine ihren dicken Kopf in unermüdlichen Anläufen von einem Ohr aufs andere zu wälzen versuchte oder blind ins Leere griff mit ihren unberatenen Händen; auf dem Papier geriet es ihr nicht deutlicher als »sie kann sich mehr bewegen als vorige Woche« oder »mal hat sie grüne Augen, mal graue«. Und das Schreiben stieß sie auf den Wunsch, daß Cresspahl doch selber dem Kind beim Wachsen zusehen sollte, und auf die ärgerliche Erinnerung, daß er aber ihr zuliebe in England beschäftigt war, ein Arbeitsverhältnis und einen Hausstand aufzulösen. Es war nicht etwa, daß sie sich aus ihren Wünschen ein Gewissen machte; nur das Schreiben an Cresspahl fiel ihr nicht bequem.
    Wegen der Tannebaums in der Kurzen Straße hätte sie ihn beruhigen können. Denn den beiden war es viel langweiliger gegangen als den Juden in den Erzählungen, die aus Wismar und Schwerin nach Jerichow gefahren kamen. Die Kreisleitung der Nazis in Gneez hatte, wie überall in ihrem Bereich, in Jerichow ortsfremde Angehörige der S. A. vor die jüdische Ladentür beordert; die Posten hätten doch weich werden können unter dem Zureden von Freunden, von Verwandten. Kreisleiter Prause kannte sich nur ungefähr aus mit ländlichen Gebieten. In Jerichow war es lange vor dem zweiten Frühstück herum, daß Ossi Rahn und Max Breitsprecher vor Oskar Tannebaums Arbeitshosen und Melkschürzen

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