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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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die Schwester von Geesche Helms, und Geesche Helms war verheiratet mit der Polizei von Jerichow, und übrigens befand Dr. Kollmorgen sich auf Reisen. Avenarius wohnte im Niederländischen Hof in Schwerin an der Alexandrinenstraße und traf sich an den Abenden bei Uhle, bei Wöhler, bei Heidtmann und in der Traube mit seinen Freunden aus dem Justizministerium und verbreitete unter ihnen die Weisheit des Weintrinkens. Nach einer Woche bekam Avenarius seine Audienz beim Reichsstatthalter Hildebrandt, den der Österreicher über das gute Land Mecklenburg gesetzt hatte, und aus der Audienz wurde ein ausführliches zweites Frühstück mit Moselweinen, die nach Avenarius’ Anweisungen von Uhle herangeschleppt wurden. Als Avenarius zurück war in Jerichow, wurden mit einem Mal die Körbe mit Essen und Bier für Ossi nicht mehr angenommen im Gefängnisflügel des Landgerichts, dann wurden auch keine mehr geliefert, dann bekam Ossi nicht einmal mehr Zettel mit Verhaltensmaßregeln von seinen treuen Kameraden aus dem Sturm. Das hieß Sturm. Mit Erlaubnis des Reichsfreiherrn von Rammin übernahm Dr. Kollmorgen auch die Vertretung von Nebenklägern, denn nun kam Ossis ganzes Leben auf den Tisch. Ossi hatte ja nicht nur aus politischer Feindschaft geschlagen, sondern auch aus reiner Freude; das erklärte die Menge der Anzeigen. Ossi saß sicher hinter Stäben; das erklärte die Genauigkeit der Beschuldigungen. Wie Ossi ein Tagelöhnersmädchen während des geschlechtlichen Verkehrs am Hals gewürgt hatte. Wie Ossi einen vollständigen Jägerzaun als Kleinholz an das Hotel Zur Burg in Gneez verkauft hatte. Wie Ossi von den Prostituierten im Hotel Zur Burg regelmäßig Geldbeträge erpreßt hatte. Wie Ossi seine Frau schlug, wie er seine Kinder hungern ließ. Es kam alles heraus, oder fast alles, und Avenarius stand unerschütterlich in seinem niederen Wuchs vor den Richtern und sprach über die Ehre der deutschen Nation, wie sie beispielsweise in ihren auserlesenen Gruppen verkörpert sei, wie eine solche beispielsweise durch die Sturm-Abteilungen des Reichskanzlers dargestellt sei, die hinwiederum laut ausdrücklicher Bekundung einen solchen Schandfleck auf ihrer braunen Uniform mit Stumpf und Stiel auszubrennen entschlossen sei! und wo andere Leute einen Punkt machen, hob Avenarius sich leicht auf die Zehenspitzen und sah aus seinen ernsthaft glänzenden Augen rundum durch den Saal. Von Ossis Haltung schrieb das Gneezer Tageblatt, sie sei gebrochen gewesen (wie die einer Kuh, wenn es donnert). Zweieinhalb Jahre Gefängnis stimmten eine Menge Leute zufrieden. Der Adel hielt es nur für billig, daß er gegen Frechheiten des Pöbels verteidigt worden war, und wollte es der neuen Regierung immerhin zugutehalten. Dr. Semig hatte sofort eingesehen, daß nicht er zuständig gewesen war für das Gutachten über das geschwollene Bein der Hildegard von Etz, sondern ein Professor der Veterinärmedizin dafür hatte aus Rostock anreisen müssen; er fühlte sich durch das Urteil auch auf eine ungefähre Weise beschützt. Oberes und unteres Bürgertum atmeten auf, weil der Gerichtsbeschluß versprach, daß die S. A. eben doch nicht alles sich herausnehmen durfte. Die S. A. war fast beglückt über die Gelegenheit, öffentlich als Feind des Unrechts und Verächter des Schmutzes auftreten zu dürfen, und bestellte bei der Gauleitung neue Formulare für den Antrag auf Eintritt in ihre Reihen. Es waren nicht Alle zufrieden. Den Landarbeitern war dieser Einzige auf der Anklagebank nicht genug gewesen. Kollmorgen bekam allmählich Bedenken, einmal wegen seiner Würde, und zum anderen, weil er von mehreren Gerichten zur Übernahme ganz ähnlicher Fälle aufgefordert war, jedoch bei Hildebrandt nicht mehr vorgelassen wurde. Und was hatte der großartige Umstand des Prozesses für Schlachtermeister Methfessel eingebracht? Nichts, wenn man ihn fragte.
    Es war nicht alles herausgekommen von Ossi Rahns Taten. So wurde nicht jene Gefälligkeit bekannt, die Ossi einem hochgestellten Führer der S. A. in Schwerin geleistet hatte. Er wurde nicht in ein gewöhnliches Gefängnis überstellt, sondern der S. A. zur Strafverbüßung ausgeliefert. Die S. A. beförderte ihn in ein »Konzentrationslager« eben jenseits der südöstlichen Grenze Mecklenburgs. In Gneez und Jerichow hieß es, daß er dort nicht als Sträfling arbeite, sondern die Sträflinge beim Arbeiten beaufsichtige. Dann fuhr seine Familie von einem Tag auf den anderen ab nach Fürstenberg an

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