Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
aufgebaut standen wie eine Ehrenwache, und tatsächlich stand um sie nach einer Weile ein Halbkreis Schaulustiger, die lediglich mit eigenen Augen das Gerücht hatten nachprüfen wollen. Breitsprecher, Sattler in Gneez, war nicht wohl. Einmal stand er nicht gern öffentlich mit Ossi Rahn. Ossi Rahn war im Landgericht Gneez so gut bekannt, daß er seine Personalien nicht mehr angeben mußte, wenn er wieder einmal wegen Körperverletzung oder Alimenten verklagt wurde. Ossi Rahn nannte sich arbeitslos; Breitsprecher hätte ihn nicht einmal zum Hoffegen anstellen mögen.
Ossi Rahn wohnte seit 1930 in der Siedlung der Obdachlosen am Rand von Gneez; in den Gastwirtschaften besaß er doch Geld; und für seine Stiefel hatte er in der S. A. sammeln lassen. Zum anderen, Max Breitsprecher war in die Partei der Nazis gegangen als ein Geschäftsmann, dem die Entmachtung des Großhandels und der Warenhausketten versprochen war; nun stand er hier mit dem schönen Ossi vor Tannebaums Laden und schädigte nicht nur einen Geschäftsmann sondern auch sich selbst um Kunden in Jerichow. Nach einigen Stunden ließ er Ossi allein auf dem Bürgersteig wandern mit seinen Sprüchen an die Deutschen, die sich wehren sollten und nicht beim Juden kaufen. Als Breitsprecher aus dem Laden zurückkam, ging in der Tür das Roleau nach unten, mit einem angehefteten Zettel ÜBER DAS WOCHENENDE GESCHLOSSEN . Ossi Rahn versuchte einen Befehl zu verweigern. Ossi Rahn wurde vor der Versammlung ziviler Bürger zusammengestaucht. Max Breitsprecher ging allein und etwas blicklos zwischen den Leuten hindurch, erst ungläubig, als Pahl ihn ansprach, dann reichlich erleichtert. (Pahl sagte: Schöner Stoff, deine Uniform. Nach Maß wür di dat noch bede låtn.)
Lisbeth Cresspahl hätte ihrem Mann schreiben können, daß Oskar Tannebaum seinen Laden am Montagmorgen wieder geöffnet hatte und so schlechte Geschäfte machte wie vorher auch; dann hätte sie schreiben müssen, was ihrer Schwester Hilde während des Judenboykotts passiert war. In Gneez gab es einen Verwandten Tannebaums, der war ängstlicher, und hatte alle seine Waren im Preis herabgesetzt, um bloß rasch zu Fluchtgeld zu kommen. Da lag ein gebrauchter Pelzmantel im Fenster, an dem kam Hilde Paepcke nicht vorbei. Für Gneez war er geschenkt, und in Krakow konnte sie ihn als eine berliner Erwerbung ausgeben. Eine Tochter von Papenbrock ließ sich nicht vom Betreten eines Ladens abhalten durch irgend welche Leute in Uniform, die Gereimtes aufsagen und Pappschilder schwenken. Drinnen verging ihr unter dem fahrigen Gerede des alten Tannebaum die Courage, den Pelz wirklich zu kaufen. Vor der Tür wurde sie empfangen mit einem Sprechchor, der sie eine Verräterin am deutschen Volk nannte. Das hätte sie noch nicht gekümmert. Obendrein hatte aber einer der S. A.-Posten getan, als fotografiere er sie. Jetzt hatte Hilde Angst vor dem alten Papenbrock; vor Angst war sie zurückgefahren nach Krakow, wo ihr Alexander schon einen guten Teil der Einrichtung verkauft hatte. Papenbrock hatte anfangs gebrüllt vor Wut, daß er in die Zeitung kommen sollte zu einer nicht bürgerlichen Gelegenheit und zu einer Zeit, da er der neuen Regierung noch nicht Farbe bekennen wollte. Zwar nahm er Hilde am Ende nur übel, daß sie nicht ihm sich anvertraut hatte, und mußte sich gar nicht Mühe geben, das Gneezer Tageblatt von einer Veröffentlichung abzubringen, aber das mochte Lisbeth Cresspahl nicht nach England schreiben.
Über den Rest des 1. April in Jerichow hoffte sie mit Cresspahl nicht einmal reden zu müssen. Denn Ossi Rahn, statt sich zu verziehen nach Gneez, war zur Ortsgruppe Jerichow der Nazis marschiert. Er hatte bei Griem nicht nur seinen Vorgesetzten Breitsprecher angegeben, als feige und judenfreundlich im Dienst, er trug weiterhin den Einfall vor, daß die Praxis eines Tierarztes doch etwas Ähnliches sei wie ein Geschäft. Griem gab vier Leute frei, mit denen marschierte Ossi zu Dr. Semigs Grundstück. Griem hätte das von Ramminsche Gespann auf dem Hof erkannt und wäre abgezogen; Ossi Rahn kannte kein Pferd vom anderen, Ossi stellte die Posten vor Semigs Einfahrt auf.
Baron von Rammin verließ Semigs Praxis über die Gartentreppe; er hatte den Lärm vor dem Haus nicht recht wahrgenommen. In Wahrheit konnte er vor Ärger nicht einmal genau sehen. Vor einigen Wochen hatte ein guter Freund aus dem Österreichischen, Graf Nagel, Beatus Nagel, ihn um die Besorgung eines deutschen Mittels gegen
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