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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Park gefahren, anfangs des Geldes wegen, dann weil wir dachten das ist für Touristen.
    Am Anfang wolltest du zurück nach Deutschland, glaub es mir. Nach einem halben Jahr sahst du dem Mädchen im Supermarkt schon auf den Mund, wenn sie dir zum zweiten Mal einen Einerschein vorlegte und dich fragte nach dem Namen des Mannes auf dem Schein. Und du sagtest: George Washington. Und sie sagte: Do you like him? Und du sagtest: Yes ma’am.
    Wenn mir ein Stück Geschirr aus der Hand fällt, sagst du streng: Watch your language.
    Manchmal, im Übergang von Behauptungen zu Bekanntem, sprichst du wie ein Pferd, das die heimatliche Stalltür schon sieht, und gehst wie nach Hause im Sprechen wie ein Pferd das Keiner am Halfter führt.
    Als du schreiben lerntest machtest du aus meinen nicht immer geschlossenen Muster-Buchstaben sorgfältig geschlossene, verlängertest Querstriche bis zum Ansatz, zogst Rundungen aus, bis sie aufs andere Ende trafen.
    Gestern habe ich dir ein Foto erklärt. Ratzeburg 1960. - Ja ich stells mir vor: sagtest du. Dir haben sie die Höflichkeit mit Kellen zu essen gegeben. Ich als Kind wollte sehr die Oberfläche vergrößern, auf der die Liebe für Mütter anwachsen kann. Ich trug ein Bild mit mir umher, auf dem sie als Kind zu sehen war. 1913. - War sie das? habe ich Cresspahl gefragt. In ganz langen Kleidern. Das Bild hatte einen sehr braunen Ton. Ich glaubte ihm nicht. Sie hat sich -. Sie hat etwas mit sich gemacht.
    Dein Vater ist gestorben als er noch nicht einmal das Wort sterben ordentlich denken konnte. Von deinem Vater weiß ich nur das Notwendigste.
    Und ich trau dem nicht was ich weiß, weil es sich nicht immer in meinem Gedächtnis gezeigt hat, dann unverhofft als Einfall auftritt. Vielleicht macht das Gedächtnis aus sich so einen Satz, den Jakob gesagt hat oder vielleicht gesagt hat, gesagt haben kann. Ist der Satz einmal fertig und vorhanden, baut das Gedächtnis die anderen um ihn herum, sogar die Stimmen von ganz anderen Leuten. Davor habe ich Angst. Mit einem Mal führe ich in Gedanken ein Gespräch über ein Gespräch, bei dem ich gar nicht dabei war und Wahrheit ist daran nur die Erinnerung an seine Intonation, wie Jakob sprach
    Der Satz von heute heißt … daß ich ihn nicht sagen werde. Es ist ein harmloser Satz, kein Geheimnis nichts von Gefühl. Es ist das Aussprechen, das ihn unerträglich machen würde, unheimlich
    Von deinem Vater weiß ich nur was man über Tote wissen kann. Handballspieler, Sozialist, Untermieter. Nach einer Weile stellen sich die Sachen vor die Person und lassen nur einen kleinen Raum, in dem er angeblich ein Leben geführt hat. Was ihn kümmerte muß ich mir erdenken. Seine Mutter kümmerte ihn, aber er hat sie mir gegeben und ist gegangen. Dein Vater konnte gut mit Mädchen. Er konnte gut mit alten Frauen, mit Cresspahl meistens, mit Katzen, mit allen seinen Freunden. Jakob war der einzige, mit dem Wolfgang Bartsch eine Schicht in Frieden durchhielt. Jöche soll bloß den Mund halten, Jöche war doch nur nebenbei, Jöche war viel zu jung. (Jöche hat 1956 umhererzählt, Cresspahl sei schon seit vierzig Jahren in Jerichow. Da siehst du.) Jakob konnte noch mit Leuten, denen die Geduld ganz und gar abhanden gekommen war, mit Verkäuferinnen am Abend, mit Güterzugschaffnerinnen. Mit mir konnte er wie ich mit Niemandem
    Wenn ich, Marie, hör zu.
    Wenn ich mich auf einen Menschen einlasse, könnte sein Tod mich schmerzen. Ich will diesen Schmerz nicht noch einmal. Ich kann es mir also nicht leisten, mich auf jemand einzulassen.
    Diese Bestimmung wird nicht angewandt auf ein Kind namens Marie Cresspahl.
    Entschuldige.
    Tagsüber spreche ich ja nicht.

30. November, 1967 Donnerstag
    Die nordvietnamesische Armee gibt bekannt: die Schlacht um Dakto im südlichen Viet Nam sei zu ihren Gunsten ausgegangen.
    Bisher machte die Mafia es so: die Brüder kauften eine normale Kneipe, die Geld verlor, renovierten sie und hielten sich ein paar Homosexuelle als Locktauben. Seit einem Jahr ist es nicht mehr ein Vergehen gegen das Alkoholgesetz für den Staat New York, einem erklärten Abweichler einen Schnaps auszuschenken, und in der Stadt warfen die Trinkstätten der sexuellen Minderheiten immer interessantere Gelder ab. Nun fängt die Mafia an, an reguläre Unternehmer zu verkaufen, und investiert Kapital und Gewinn in private Clubs für die ergiebigen Homoerotiker und freut sich des nicht nur erhöhten, auch beschleunigten Umsatzes. Die Kundschafter der Polizei

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