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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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der unter der unmenschlichen Herrschaft des Faschismus einer Verführung zur Teilnahme an diskrimierenden Akten gegen jüdische Bürger erlegen ist, ist nicht mehr der selbe, wenn er die Tatsache der Verführung bewußtseinsmäßig verarbeitet hat, ganz abgesehen davon, daß solchen Menschen bei uns der Weg in die führenden Funktionen von Staat und Partei versperrt ist. Das entspricht der Politik unseres Staates, die für sämtliche Minoritäten, seien sie nationaler oder religiöser Art, eine Behandlung nach dem Prinzip der Gleichberechtigung zusichert. Diese Tatsache ist der beste Beweis für die Berechtigung des unnachsichtigen Abwehrkampfes der Deutschen Demokratischen Republik gegen den rassistischen, suprematistischen und kolonialistischen Zionismus, wie er erst vor einem halben Jahr im Nahen Osten sein tückisches und blutiges Haupt erhoben hat.
    Im übrigen teilen wir Ihnen mit, daß einzelne statistische Daten, laut Anweisung der Abteilung für Statistik beim Rat des Kreises Gneez, nicht an Privatpersonen ausgegeben werden, selbst wenn sie vorhanden wären.
    Zum Schluß machen wir Sie darauf aufmerksam, daß Sie durch Ihr ungesetzliches Verlassen des Territoriums der Deutschen Demokratischen Republik vor vierzehn Jahren nicht von den Pflichten eines Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik entbunden sind und daß Volk und Regierung von Ihnen erwarten, daß Sie im Sinne unserer Verfassung für den Frieden und die Verständigung unter den Völkern und gegen die imperialistischen Kriegstreiber auftreten.
    Mit Friedensgruß!
    Schettlicht. Klug. Susemihl. Kraczinski. Methfessel.
    Deutsche Demokratische Republik. Der Rat des Kreises Gneez. Gemeinde Rande.«
    Manchmal sagt Marie von Schwester Magdalena: »I wish she were in Jericho!« Es fällt ihr gar nicht auf, so nachdrücklich denkt die hiesige Sprache für sie, daß Jericho ein sehr entfernter Ort ist, und nicht ein angenehmer. Wer im Englischen nach Jericho gehen soll, wird auf den Weg zum Teufel geschickt, und wird Einer nach Jericho bloß gewünscht, so soll er bleiben, wo der Pfeffer wächst.

29. November, 1967 Mittwoch
    Liebe Marie.
    Heute versuche ich zum ersten Mal, dir etwas auf das Tonband zu sagen »für wenn ich tot bin«. Du hast es dir gewünscht vor sieben Wochen, als wir zu Annie nach Vermont fuhren. Erinnerst du dich?
    I read the Times today:
    Oh boy.
    Nun hast du auf dem Band, daß ich nicht singen kann. »Wie ein Glas mit einem winzigen Sprung« sagte Jule Westphal mitunter. Dann behielt sie mich doch im Schulchor. Im 2. Alt.
    Wenn man Eisenhower noch einmal ließe, würde er in Nord-Viet Nam einmarschieren, notfalls auch in Kambodscha und Laos. Und er würde es nicht eine Invasion Nord-Viet Nams nennen, sondern daß »wir uns einen Dorn aus der Seite ziehen«. Ich sage dir das, weil du ihn einmal niedlich fandest.
    Nun lese ich dir aus der New York Times vor: »Binnen einer Stunde nach Sonnenuntergang zeigen sich die ersten Zuckungen der Angst in den westlichen sechziger, siebziger und achtziger Straßen. Die Geschäfte schließen gegen neunzehn Uhr, und binnen zwei Stunden sind solche Durchfahrtstraßen wie der Riverside Drive und die Avenuen Columbus und Amsterdam nur noch zufällig belebt oder fast ausgestorben.« So ist es auch in den neunziger Straßen, wo wir leben.
    Als Kind habe ich leicht mit der Zunge angestoßen, es hilft mir jetzt beträchtlich, beim ti-aitch. Soll ich mal eins versuchen? »Removing a thorn in our sides«. Hört man es?
    Im Herbst 1956 haben sie mich behandelt wie ein Kind, wie eine Wahnsinnige, in Jerichow. Als begriffe ich nicht ihre Lage
    Manchmal bin ich so müde, daß ich genauso unordentlich rede wie ich denke
    Ich finde das nicht ordentlich wie ich denke
    Wo ich her bin das gibt es nicht mehr
    Es gibt noch so Bücher, du wirst sie nicht lesen können. Das sind die im Glasschrank. Ich fand immer von den Sprüchen die am schönsten, wo es heißt »sä de Jung«. Fuchs und Katze und Igel und fast alle Vögel sollen auch haben sprechen können. Ich mochte am liebsten die Geschichte von dem Jungen, der im Bett saß und so müde war, daß er sich nicht mehr hinlegen konnte. Also rief er seine Mutter und bat: »Stöt mi üm«. »De Jung« war aber ein Kind, das es schwer hatte.
    Deine Vorfahren haben alle ihren Namen nicht schreiben können. Cresspahl war der erste.
    Pferde kennst du nur räudige, mit Blumen am Kopf und verrotteten Lappen um die Füße. Mit den Kutschen sind wir nie durch den Central

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