Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Wäre es möglich, dahin zurückzugehen?
» SEEBAD DER WERKTÄTIGEN Rande. Der Gemeindevorstand. Straße der Nationalen Einheit 35. Telefon Jerichow 2 55. Den 24. November 1967. Betrifft: Ihr Schreiben vom 20. August 1967: Anzahl der jüdischen Kurgäste in den Jahren vor 1933.
Sehr geehrtes Fräulein Cresspahl!
Wir können nicht umhin, die Beantwortung Ihres Schreibens mit der Feststellung zu beginnen, daß uns bekannt ist, daß Sie eine Bürgerin der Deutschen Demokratischen Republik sind. Sie sind die Tochter des verstorbenen Heinrich Cresspahl, die Besitzerin des von ihm bis zu seinem Tode bewohnten Grundstücks Ziegeleiweg 3-4 in Jerichow und nach wie vor dort polizeilich gemeldet, da Sie Ihre polizeiliche Abmeldung unterlassen haben, wie aus den uns vorliegenden Unterlagen hervorgeht.
Sie werden verstehen, daß es uns nicht freundlich berührt, von Ihnen einen Brief aus den Vereinigten Staaten von Amerika zu bekommen, aus einem Land, das einen gnadenlosen Ausrottungskrieg gegen das tapfere vietnamesische Volk führt, von einer Bürgerin, die nicht nur ihr Heimatland verlassen hat, zu einer Zeit, da es hart um seine Existenz kämpfen mußte und die Hilfe jedes Einzelnen unabkömmlich war, sondern auch den Sozialismus verraten hat.
Dies sind die Voraussetzungen, die wir bei der Einschätzung Ihrer Anfrage heranziehen müssen.
Wir müssen Sie eingangs erinnern an die besonderen Bedingungen, unter denen die Deutsche Demokratische Republik lebt, arbeitet und den Frieden sichert. Es wird Ihnen bekannt sein, daß unser Land in fast zwanzig Jahren harter Aufbauarbeit den achten Platz der industriellen Produktion in der Weltrangliste errungen hat, und Sie werden sich vorstellen können, daß damit Hand in Hand tiefgreifende Umwälzungen der Gesellschaft vor sich gingen und zum ersten Male auf deutschen Boden, in dem einzigen sozialistischen Staate deutscher Nation, die Menschen sich einem menschenwürdigen Leben gegenübersehen. Dennoch darf man nicht aus dem Auge verlieren, daß wir immer noch eine gemeinsame Grenze haben mit einem Gesellschaftssystem kapitalistischer Prägung, in dem die alten Junker und Generale, Revanchisten und Kriegshetzer und natürlich die Flick und Konsorten die Macht ergriffen haben, die ihrer natürlichen Veranlagung nach Tag und Nacht darauf sinnen, wie sie unserem jungen Staat Schaden zufügen können, da sie nun einmal bei dem Versuch seiner Entfernung aus der Welt Schiffbruch erlitten haben. Eine solche Grenze besteht nun aber nicht nur an den Rändern des Territoriums der Deutschen Demokratischen Republik, sondern überall, wo unsere Gegner ihre Durchdringung versuchen, selbst im Überbau.
Unter diesen Umständen gelangen wir zu folgender Fragestellung: Was ist der Zweck der Erkundigung der Bürgerin Cresspahl? Was kann ein Mensch, der in das Lager des Klassenfeindes desertiert ist, vorhaben mit gewissen Daten aus der Vorgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik, die aus einer vor seiner Geburt liegenden Zeit stammen? Es wird sich gewiß nicht um eine Äußerung des Heimwehs oder der privaten Erinnerung handeln. Die Annahme einer objektiven Absicht ist also gegeben. Unser Augenmerk gilt der Tatsache der Verwandlung dieser gewissen Daten bei einfacher gesellschaftskritischer Betrachtung auch für das nicht marxistisch-leninistisch geschulte Auge in tatsächliche Vorgänge unter Beteiligung und Mitwirkung wirklicher Menschen. Es bedürfte also keiner sonderlichen Anstrengung, und wäre auch mit einer bestimmten grundsätzlichen Wahrscheinlichkeit versehen, daß ein Feind unseres Staates den Versuch unternimmt, mit einer Manipulation gewisser in einem begrenzten Sinne tatsächlicher Daten den Eindruck zu erwecken, als handele es sich bei jenen Menschen, die in den Jahren nach dem Jahr 1933 durch aktives Handeln oder durch Unterlassung eine Einflußnahme auf die Zahl der Badegäste jüdischer Religion ausübten, und jenen Menschen, die heute Seite an Seite die bisher höchste Lebensform, den Sozialismus aufbauen, um die selben Menschen. Schon wäre die Lüge vom latenten Antisemitismus in der Deutschen Demokratischen Republik fertig. Dazu kann einer Vorschubleistung von unserer Seite nicht die Hand geboten werden.
Es liegt hier ein Denken vor, das der simpelsten Kenntnisse der menschlichen Psychologie ermangelt, insofern als es die These von der Bestimmung des Bewußtseins durch das Sein und von der Entwicklung durch Veränderung außer Berücksichtigung läßt. Ein Mensch,
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