Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
einen Krieg, Cresspahl. Warum bist du dann hingefahren zum Krieg.
War doch noch nicht zu sehen, Gesine.
Doch.
Ne.
War es denn wirklich so einfach? Da gab es mit einmal politische Todesstrafen, aber du wolltest dich eben aus der Politik halten? Die richteten sich ein auf einen Krieg, aber dich würden sie nicht ziehen, Jahrgang 1888? Die mochten einen Rochus auf die Juden haben, aber wo du dich hinstellst, wird ihnen nichts passieren? Die verbieten alle Parteien, und in einer warst du mal, und vielleicht geht es mit einer einzigen doch besser?
So ungefähr, Gesine.
Glöv ick nich.
Wenn ein von’ Råthus kümmt, is he nich bloß kläuker. He is reinwech n bederen Minschen, de vesteit de annern nich mihr. Wo sittst denn du, Gesine? Kannstu din Kriech nich seihn? Worüm geihst du nich wech, dat du kein Schult krichst? Du kennst dat nu doch as dat iss mit de Kinner. Wat secht Marie, wenn se’t markt hett?
Dat de Dodn dat Mul holln dedn.
Is di nich nauch dat se dot sünt?
Wenn ick nicks seggn sall, wat redst du?
Ick wull di nich Angst måkn, Gesine.
Du wist dat man bloß nich seggn.
Sech du dat.
Du harst din Fru in Dütschlant, un süss hest du di nich vel dacht.
Süss hev’ck mi nich vel dacht.
Cresspahl und Papenbrocks jüngste Tochter gingen nicht nur nachts auf der Steilküste bei Rande, auch am hellichten Tag auf der Straße Arm in Arm, und wieder hieß es in Jerichow, das sei eine Ehe wie Leim und Lack. Eines Abends konnten diese Cresspahls doch nicht warten, bis sie in Papenbrocks Haus waren, und standen hundert Schritt davon in einem Torweg umarmt, und als Ete Helms den Schritt zu lange verhielt, lösten sie sich von einander ohne Eile und wünschten ihm ganz ohne Aufregung einen guten Abend. Ete Helms hätte ihnen am liebsten das Weitermachen befohlen: erzählte er zu Hause. Die Erzählungen waren gutmütig, die Neugier nicht gehässig. Vielleicht würde doch Einer, würde Eine das schaffen und so leben mit einander wie es aber nicht möglich war.
– Warum magst du heute nichts erzählen: sagt das Kind endlich.
– Das Tschechische hat mich müde gemacht, Marie.
– Sag etwas: verlangt sie.
– Jen dou vode mně dál
láska mi vobešla.
– Und noch!
– Šaty měla podzimkové
a vlasy měla podzimkové
a oči měla podzimkové …
– Aha! sagt Marie. - Ich wollte nur sehen, ob du deine Schularbeiten gemacht hast.
1. Dezember, 1967 Freitag
Der Schneesturm von gestern hat die Bäume vor dem Fenster zu weiß funkelnden Fremdlingen verkleidet, den Himmel sauber geräumt und der unverstellten Sonne einen blendenden Spiegel in den Riverside Park gelegt. Zurückgelassen hatte er einen Wind, der jedem auf die Knochen schrieb, daß es kälter ist als sechs Grad, reinweg sechseinhalb unter Null. Die Helligkeit, die Frische in der Luft hatten die Stadt ganz reinlich gekleidet, wie einen hartgesottenen Fürsorgezögling, der gleichwohl einen neuen Anfang machen soll. Auf dem Broadway, am Niedergang zur Ubahn, war ein alkoholkranker Mann auf dem vereisten Matsch von gestern hingeschlagen und hatte sich verzogen in arglosen Schlaf. Die Leute stiegen bei aller Eile sorgfältig über die Beine des Verunglückten, wie ein Pferd über den, den es abgeworfen hat.
Die New York Times nennt heute die Namen der amtlich in Viet Nam getöteten Soldaten aus New York und Umgebung, aber sie gibt nicht an, wieviele aus dem ganzen Lande gefallen sind.
Vom abgelösten Kommandeur der Pazifikflotte, Admiral Roy L. Johnson, meldet sie: er werde nun nach Virginia gehen, »um zu leben«.
John Franzese, »das Söhnchen«, wiederum des Mordes am »Habicht« Ernest Rupolo angeklagt, läßt gegen einen Zeugen des Staates vorbringen: der sei ja viel zu kriminell, um glaubwürdig zu sein.
Bei uns, an der Amsterdam Avenue und der 71. Straße, soll ein heruntergekommenes Hotel, das Sherman Square, Platz machen für ein Appartementhaus der Luxusklasse von mehr als 30 Stockwerken. Die Unternehmer hoffen zu erreichen, daß die Armen und Kaputten die Obere Westseite verlassen, wenn man ihre Unterkünfte (»ihre Schlupfwinkel«) abreißt. »Nur so kann die Stadt wachsen.«
Statt eines Briefes hat Karsch uns einen Blankoscheck zukommen lassen, »für was eine neue Telefonnummer kostet«. Das war in deutscher Sprache geschrieben, Marie hat es lesen können und findet es nur recht und billig. Die neue Nummer hat aber nichts gekostet. Unsere Telefongesellschaft ist von privaten Absichten besessen und zieht es vor, daß
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