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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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wir ihre Dienste benutzen, statt ihr böse zu sein. Zwei Tage nach dem Antrag waren wir »wieder im Geschäft«, in den Ausdrücken des Monteurs, eines über der Arbeitsroutine redselig gewordenen Mannes, der uns in einem fort zum Entenschießen in den Sümpfen New Jerseys überreden wollte. Was fangen wir nun an mit einem beliebig ausfüllbaren Scheck auf die Bank des Heiligen Geistes in Mailand?
    An den Scheck sind zwei Druckfahnen geheftet, augenscheinlich mit dem Schluß eines Artikels, den Karsch über seinen Aufenthalt in den U. S. A. verfaßt hat. Karsch gehört also zu jenen, die in Ruhe arbeiten dürfen und denen man ihr Geschriebenes noch einmal zu lesen gibt, bevor die Fehler nicht mehr berichtigt werden können. Aber hier hat er sich eine handschriftliche Erklärung gespart, und es ist in Italienisch, das kann Marie nicht lesen, das will sie übersetzt haben, sofort, Wort für Wort.
    Bevor Karsch nach New York kam, war er also bei der Mafia in Neu-England zu Besuch. Er kennt da weniger Leute und weiß weniger Einzelheiten als sein Kollege Davidson, der vor vierzehn Tagen einen ähnlichen Bericht in der Saturday Evening Post veröffentlicht hat; aber es sieht so aus, als hätte die Bundespolizei auch Karsch etwas lesen lassen von dem, was ihre Abhörgeräte den Vätern und Leutnanten der Mafia in ihren eigenen Büros von den Lippen gelesen haben, und es liest sich, als habe auch Karsch seine Aufwartung gemacht bei Raymond Loreda Patriarca, dem Familienoberhaupt aller jener Brüder im Gebiet von Boston, und als habe er mit eigenen Augen gesehen, wie der Alte an warmen Nachmittagen auf der Treppe vor einer seiner Niederlassungen sitzt, elegant in weißem Pullover, weißen Socken und Schuhen aus Alligatorhaut, mit einer dicken Zigarre zum Spielen und mit einer solchen Gutartigkeit im Gesicht, wie sie nur jemand aufbringt, der seine Leibwächter in der Nähe nicht nur weiß, sondern auch sieht. »Wenn aber Einer sich vorkommt wie Gottvater, wie soll er dann nicht an die eigene Unschuld glauben?« heißt es bei Karsch.
    Gewiß, er beschreibt die Einkommenszweige der Mafia, vom Zinswucher über die arrangierten Fußballspiele und Pferderennen zur eigenen Herstellung von L. S. D. und dem Transport von Narkotika in Rechnung und Auftrag befreundeter Familien, aber dann fällt ihm der Blick beim Schreiben doch wieder in den Hafen von Boston und auf das Schiff »Constitution«, benannt nach der amerikanischen Verfassung, zur Besichtigung freigegeben, und Karsch meldet: An diesem Tage war sie zu. Es ist geradezu, als unterhielte er sich mit seinen Lesern, als sei er gewiß, ihre Aufträge auszuführen. Er hat im Lebenslauf Patriarcas nicht alles, was Davidson hatte; dafür bringt er aber die Lebensgeschichte von Patriarcas Eltern, Einwanderern aus Italien, aus Sizilien. Das Gerücht, die Mafia von Neu-England wolle ihren Vater wegen seines Alters und möglicher Schwäche in Polizeiverhören demnächst ermorden, steht bei Karsch an einer Stelle, die ihn nun gerade nicht einer Beleidigung Gottvaters überführt. Er verpaßt nicht die Geschichte: wie Patriarca einst einen Mangel an geeigneten Arbeitskräften reparierte durch die Anstellung von Nicht-Italienern, ohne sie aber in der Praxis und Ideologie der Mafia, insbesondere der omertà, auszubilden, und nun sich nicht wundern muß über das Knacken im Gebälk seines Empire. Er bietet Soziologie: wie die Mafia in Boston auf das Niveau der Wirtshausschlägereien abgesunken ist und mit lautem Geknalle auf den Straßen und mit vorfindbaren Leichen erledigt, was in Chicago in diskreter Stille und ohne Spuren abgetan werde, und daß für die ganz dreckige Arbeit inzwischen schon »die Bauern von Boston« nach auswärts geholt werden. Mit seiner Art, die Beziehungen zwischen der Mafia und den Politikern von Neu-England abzubilden, bringt er den Leser in Wut, ehe der es sich versieht; Karsch aber steht längst mit freundlicher Miene auf dem Harvard Square in Cambridge und beschreibt die einmündenden Straßen und den Kiosk der Ubahn und eben jenen Zeitungenstand, wo neben der Literaturnaja Gasjeta aus Moskau auch die Zeitungen aus Italien ausliegen.
    Am meisten aber hat er es mit den Kindern. Das erste ist ein Mädchen, das er im Italienischen Viertel von Boston beobachtet hat, eine neunjährige Dame hinter dem Gemüsestand, die von den Käufern genau das beherrschte und achtungsvolle Benehmen erwartete, das sie ihnen zukommen ließ; fast schwarze Augen, meist hinter den

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