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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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noch als trockene Gedächtniskonserve aufgerufen von der Umzugsnotiz eines Restaurants. Zwei Kranichkräne waren über dem Schuttfeld zu Gange. Einer hob zwei gegenläufige, an der Naht noch verbundene Treppenteile aus Stahl und Beton hoch, ließ sie baumeln, schmetterte sie nieder und hatte sie doch nicht kaputtgekriegt. Vielleicht war das ein Versehen, darüber können Herren sich unterhalten. Der andere Kran hob aus dem Stahlgerüst eines ehemaligen Hauses am Rande des Feldes ein Geviert von T-Trägern, säuberlich losgeschweißt, und schwang es hoch über den harten Hüten der Arbeiter zur Seite. Das Skelett des umgebrachten Hauses war nun fast ganz nackt. Das wird nicht wieder. Nach einer Weile werden sie die wertvollen Teile von dem Abfall gesondert und beides abgefahren haben, die Fläche planieren, fertig ist die Zukunft.
    Aber in Deutschland möchte ich nicht noch ein Mal leben. Im Westen haben sie eine Nazipartei, und die Nazipartei hat eine Schlägertruppe gegründet und gibt der Presse darüber eine Konferenz. Und die Presse kommt. Die Abkürzung für die Saalschützer ist S. G., von Schutzgemeinschaft, und der Obernazi kann und kann da keine Anspielung auf die S. A. Hitlers verstehen, die auch als Ordner angefangen haben. Und von »Blutsverbundenheit« reden die auch schon wieder, wenn ich common blood nicht falsch auffasse. In Deutschland möchte ich nicht noch einmal leben.
    Nachmittags im Foyer der Bank knieten und lagen drei Arbeiter, einer nahezu bäuchlings, und beschmierten das gelbe Metall am Fuß und Bauch der sechs Glastüren mit einem Putzmittel (und was wir in Jerichow benutzt haben für Türschild und Wasserhahn war so sprichwörtlich als gehörte es zum Leben, und ist vergessen. Vielleicht habe ich doch vergessen, was die Sekunde machte, und einen Tropfenfall später gab es nur noch die interpretierte Sekunde, die die Erinnerung aber auch verfehlt), und sie rieben und rieben. Es war nur noch drei Stunden bis Dienstschluß, wenn die vollgeladenen Fahrstühle nach unten sausen und mit ängstlichem Geknurr gegen die Überlast protestieren. Als ich kam, war die Arbeit des Nachmittags schon verschmiert von achthundert Händen.
    Manchmal streichen sie den Marmor des Foyers in türgroßen Flächen mit einer Haut zu, die aussieht wie Gips. Dein Vater wüßte für gewiß, wozu die das machen, und ich mag nicht einmal fragen.
    Von Mrs. Agnolo wollte ich dir erzählen. Ihr Sohn ist in Saigon als Flieger stationiert, und sie zählt jeden Tag seines Dienstjahres in Viet Nam, denn sie sagt es. Sie sagt es so bereitwillig, ohne Aufforderung, als sei dem Jungen durch einen Besprechungszauber zu helfen. Sie zieht sich so jung an wie die Mädchen, mit denen sie in unserem Schreibbereich arbeitet, und versucht sich auch in ähnlich lässigem oder ausgelassenen Benehmen, aber wer das mit ihrem Sohn weiß, sieht ihr Alter, daß die Schminke nicht sitzen will. Man sieht sie auch untätig vor ihrer Maschine sitzen, sie ist nicht nur mit dem Abfeilen ihrer Fingernägel beschäftigt.
    Gestern nacht ist im Auslandspostamt an der Neunten Avenue ein Karton mit einer Adresse in Cuba hochgegangen. Acht Leute wurden verletzt, andere Pakete flogen nur so umher, heil oder kaputt. Du sei froh, daß du keine Weihnachtspakete mehr aus Europa bekommst, du hast da keines verloren.
    In dem Jahr, in dem ich dir dies auf dein Band spreche, warst du ein Kind, das stolz sein konnte auf solche Sachen wie die, daß zu Weihnachten in New York mehr Päckchen und Pakete ausgetragen werden als in ganz Belgien, und eben so viele wie in ganz Frankreich. Für dich war New York das Größte, von der Oberen Westseite bis zur Unteren Ostseite.
    Die New York Times bringt heute ein Bild von der Arena des neuen Madison Square Garden, ein ungeheures Oval für 20 000 Leute unter einem weitläufigen Himmel, sehr festlich beleuchtet. Noch sind die Sitze leer, oder nicht fertig, und ich bin es sehr zufrieden, daß du solche Erinnerungen an deine Kindheit haben wirst, und hätte vielleicht solche auch gern für mich.
    Dann habe ich noch in der Subway einen Negerjungen gesehen, acht oder zehn Jahre alt, mit einem klobigen Schuhputzerkästchen zwischen den Beinen. Er war mitten im Gedränge eingeschlafen und ließ den Kopf vertrauensvoll an den Arm seiner Nachbarin sinken. Darauf drückte sie ihre Schulter ein wenig vor, damit er abgestützt war.
    Das ist alles, was ich heute gesehen habe.

9. Dezember, 1967 Sonnabend
    Der frühere stellvertretende

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