Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Präsident Richard M. Nixon hat in New York zu verstehen gegeben, daß der Kampf gegen Ungerechtigkeit in der Behandlung der Rassen wichtiger sei als der Krieg in Viet Nam. »Der Krieg in Asien ist ein Krieg beschränkter Art mit beschränkten Mitteln und beschränkten Zielen«: hett he secht. »Der Krieg zu Hause geht um das Überleben einer freien Gesellschaft«. Womöglich denkt er, er kriegt die Präsidentschaftskandidatur vom Weihnachtsmann.
Wer einen Soldaten in Viet Nam hat, kann das Rote Kreuz anrufen unter 3 62-06 00 und eine dreiminütige Phonopost für die Lieben im Felde verabreden. Und es kostet nichts, wegen Weihnachten.
Am Irving Place, am Times Square und an der Rockefeller Plaza haben Jugendliche gestern gegen den Krieg demonstriert. An der Rockefeller Plaza Nummer 45 ist eine Niederlage der Fabrikanten von Napalm B, Dow Chemical. Dow Chemical hat einen Persilschein des Kriegsministers: die private Industrie habe keinen Einfluß auf die militärische Verwendung ihrer Produkte; und ohnehin kommt Napalm B nur für ein halbes Prozent des Absatzes von Dow Chemical auf. Und von den Polizisten mit ihren Knüppeln wurden die Demonstranten aus den Weihnachtseinkäufern und Touristen »herausgejätet«, wie die New York Times es sieht. An der Rockefeller Plaza, unter dem riesigen, dem strahlenden, dem bunten Weihnachtsbaum.
Bis Weihnachten 1934 war Lisbeth Cresspahl mit ihrer Kirche längst wieder im Benehmen und half aus beim religiösen Unterricht für Kinder und war dabei, als der Tannenbaum gegenüber dem Altar aufgestellt und aufgeputzt wurde. Und mit Pastor Brüshavers Frau war sie schlankweg befreundet. Sie hatte die Familie der eigenen Schwester gegenüber ihrem Haus wohnen, aber ihr nachbarschaftlicher Umgang war mit Aggie Brüshaver. Sie ging über den Ziegeleiweg, am Zaun um das Paepckesche Grundstück entlang, hinter Hildes Haus vorbei, dann durch Creutzens Pforte und auf den Wegen zwischen seinen Beeten und Treibhäusern zur Hintertür des Pfarrgartens. Dem alten Creutz war das recht, er ließ sich recht gern mit einer jungen Frau ein wenigstens in ein Gespräch. Und Homuth, der das Kirchenland hinter der Gärtnerei gepachtet hatte, sagte nichts dagegen. Die beiden Frauen sahen sich vor und hatten nur einen ganz schmalen Weg am Rand seines Ackers ausgetreten; solange die da vorbeikamen, gingen ihm wenigstens die Jungen nicht an seine Rüben. Cresspahl war es nicht bedenklich. Vielleicht tat es Lisbeth gut, so etwas wie eine Lehrerin zu sein. Brüshaver hatte seine zweite Frau kennen gelernt in dem rostocker Krankenhaus, in dem seine Schulterverletzung aus dem Ersten Weltkrieg nachoperiert wurde; Aggie war Diakonisse gewesen und mehr vorbereitet auf die Hilfeleistung in anderen Haushalten als auf die Führung eines eigenen, und zumindest im Kochen lernte sie von Lisbeth mehr in einem halben Jahr als in den dreien, in denen sie ihre Erfolge an Brüshavers Miene hatte ablesen müssen. Die Männer waren in diese Freundschaft nicht eingeschlossen. Cresspahl dachte an das Studium des anderen und hatte genug an den Steifheiten und Vornehmheiten Arthur Semigs, auch wollte er sich nicht einlassen mit jemand, der mit Methling in einer Firma war; und wenn Brüshaver sich abgewiesen fühlte, so zeigte er es nur mit einem kleinen Lächeln beim Grüßen auf der Straße, einer Belustigung, die etwas geheimnistuerisch aussah. Lisbeth tat dazu nichts, weil Brüshaver für sie der Pastor, die Autorität bleiben sollte; und Aggie hielt Cresspahl allen Ernstes für einen Brummbären, mit dem schwer auskommen sei, und schob es übrigens auf ihn, wenn Lisbeth einen niedergeschlagenen Tag hatte. Cresspahl war das recht, die beiden in seiner Küche zu wissen; er sah das gern, wenn sie fröhlich war, wenn sie im Eifer des Kochens das Haar mit dem Unterarm aus dem Gesicht wischte, wenn sie und Aggie einander Geschichten von den Kindern erzählten, von Gesine und von Aggies Martin, Mathias und Marlene. Cresspahl dachte: die reden über Kinder und übers Kochen. Das taten sie auch.
Durch Aggie aber erfuhr Lisbeth mehr von den Streitigkeiten der evangelischen Kirche mit dem Österreicher als sonst ein Gemeindeglied in und um Jerichow wissen konnte. Die Leute hörten zu, wenn Brüshaver predigte in seiner ernsthaften, vernünftigen, langweiligen Art und fanden es ganz angebracht, daß der Mann nach dem Judenboykott auf die christliche Pflicht zur Nächstenliebe hinwies, denn das war ja der Beruf von dem Mann, dazu war
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