Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
er da und dafür bezog er sein Geld. Arthur Semig hatte es nicht geholfen, und Brüshaver ging selber nicht zu Tannebaum und kaufte ihm was ab. Lisbeth aber hörte von dem Hickhack der Kirche mit den staatlichen Behörden in dem Ton und in der Ausführlichkeit, mit denen das Ehepaar die Vorgänge besprach. Ihr selbst war noch aufgefallen, daß Hitlers S. A. bis Mitte 1933 bei Fahnenweihen und Appellen christliche Gottesdienste hatte veranstalten lassen; und von Methling wußte sie, daß er Ende 1932 als S. A.-Geistlicher eines Gruppenkommandos im Rang eines Sturmbannführers z. b. V. vom Stabschef der S. A. in Berlin bestätigt worden war; von Aggie aber erfuhr sie zum ersten Mal, daß es im April 1933 eine »Diktatur« in der Mecklenburgischen Landeskirche gegeben hatte, als der Ministerpräsident Granzow einen Staatskommissar einsetzte, der den Oberkirchenrat in Schwerin unter polizeilicher Bedeckung übernahm. Dann war der Landesbischof Rendtorff aus dem Amt gedrängt worden, und an seine Stelle kam der Gauleiter der »Deutschen Christen«, Schultz, so thüringisch erzogen, daß er statt mit Wasser mit Erde taufen wollte, weil er wie die Nazis eine Wolke aus Blut und Boden im Kopf hatte, und beim Abendmahl berief er sich doch reinweg auf den Österreicher und erklärte das symbolische Blut des Herrn für das Blut der Märtyrer der faschistischen Bewegung. Das waren nicht ungefährliche Nachrichten für Lisbeth Cresspahl, geborene Papenbrock. Die Deutschen Christen wünschten sich eine einzige Evangelische Reichskirche; sie wollte aber nicht, daß an ihrer Mecklenburgischen Landeskirche etwas geändert würde oder daß sie gar verschwand. Im Januar 1934 hatte Brüshaver die Erklärung von Niemöllers Pfarrernotbund verlesen: man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen; das war ein Ton, der dieser Tochter von Louise Papenbrock unter die Haut ging. Ob es nun um die Verweigerung des Fragebogens mit dem Arierparagraphen ging, oder um eine kirchliche Trauung unter einem nicht kirchlichen Motto
Der Furcht so fern,
dem Tod so nah,
Heil dir S. A.
oder um die Reinheit der Verkündigung des Evangeliums, für sie war die Kirche im Recht. Die Kirche durfte nicht gekränkt werden. Die Kirche wurde gekränkt. Im März 1934 war Brüshaver auf die Superintendentur in Gneez zu einem Gespräch geladen worden; Lisbeth wußte aber von Aggie, er sei »schwer verwarnt« worden, weil er immer noch nicht aus dem Pfarrernotbund ausgetreten war. Für Lisbeth war das zu aufregend. Die Aufregung konnte heiter sein, weil es ja um einen Kampf ging und der Sieg für die rechte Seite längst beschlossen; die Aufregung war manchmal von einer kopflosen, verzweifelten Art, weil die Behörden des Österreichers nicht daran dachten, ihr Unrecht einzusehen; dann wieder albern, wenn sie einen halben Tag lang eine Phrase des Pfarrernotbundes nach einer ausgedachten Melodie singen konnte, ob sie nun Wasser pumpte oder Kartoffeln schälte.
Ein Volk, ein Reich, ein Führer, ein Theater.
Sie sah so töricht aus dabei. Cresspahl mochte es nicht, daß sie sich das Gewissen so voll lud mit den Sorgen der Kirche. Ihm schien nicht einmal, daß sie begriff, was sie da vor sich hinsang. Er wäre sich lächerlich vorgekommen, hätte er sie vor der Geheimen Staatspolizei gewarnt. Das mußte sie doch wissen. Und er fürchtete, sie werde ihm zur Antwort geben: Ein jeder muß für seinen Glauben einstehen.
War dir so kalt in der Kirche, Lisbeth?
Wieso, Cresspahl.
Du hast doch gezittert, Kind.
Wann hab ich gezittert.
Als Brüshaver bei der Weihnachtsgeschichte war.
Ich habe nicht gezittert, Heinrich. Du denkst dir da was aus.
10. Dezember, 1967 Sonntag
Die Zeitungen von Hanoi melden, ihre Nationale Befreiungsfront habe im Oktober und November 40 000 gegnerische Soldaten getötet, verwundet oder gefangen genommen, darunter 20 000 Amerikaner und Verbündete. So steht es in der New York Times. Es fehlt ein Hinweis, daß es anders in ihr stand.
Die Verleger haben den Glauben daran verloren, daß die Rechte an Che Guevaras nachgelassenen Papieren bei der bolivianischen Regierung liegen, und die Verhandlungen haben sich zerschlagen. Was die Interessen der New York Times angeht, so meldet sie, daß die New York Times »die neue Lage erwägt«.
In der nächsten Woche werden in Moskau vier Schriftsteller angeklagt, weil sie zu verstehen gaben, daß ihnen der Prozeß gegen die Schriftsteller Daniel und Sinjawsky nicht gefiel. Drei haben was
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