Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
Vom Netzwerk:
geschrieben, und die vierte, Vera Lashkowa, soll beim Tippen geholfen haben. Das reicht für den Artikel 70, Verbrechen gegen den Staat, bis zu sieben Jahren, Verbannung bis zu fünf Jahren.
    Es hat jemand geheiratet! Die Tochter des Präsidenten hat geheiratet! Lynda Johnson hat geheiratet! Im Weißen Haus hat sie geheiratet! Einen Kapitän zur See hat sie geheiratet! Einen Kapitän zur See mit einer Marschorder für Viet Nam! Nu beruhige dich doch.
    Und Allen M. Johnson, 54-09 Almeda Avenue, Arverne, New York, gibt aller Welt kund und zu wissen, daß er nicht länger aufkommen wird für Schulden, die seine Frau macht, Betty Johnson nämlich.
    Im Herbst 1934 wurde in Jerichow sehr wenig Fleisch gegessen, und schuld daran war Arthur Semig. Schuld daran war Schlachter Methfessel. Schuld daran waren die Nazis. Wer war nun schuld?
    Es fing an damit, daß August Methfessel im September einen Besuch bei Semig machte. Er kam nicht in der Dunkelheit, sondern gleich nach Mittag, und er ging nicht durch den Torweg zur Praxis, sondern stellte sich auf vor Semigs Gartenpforte und klingelte. Und weil Dora Semig sich neuerdings Zeit nahm mit dem Öffnen der Haustür, stand er da eine ganze Weile und ließ sich sehen von allen, die in der Bäk wohnten, oder da vorbeikamen. In der Hand hatte er etwas Dickes, das an einem Ende spitz war, und es war mit weißem Papier umwickelt, und sollten es wohl Blumen sein?
    Dora Semig hielt das Weiße für einen Blumenstrauß, und war ohnehin verblüfft genug, Methfessel in den Salon zu führen. Er wollte sich da aber keinen Platz nehmen, stand unbehilflich inmitten des Kösterschen Biedermeier und hielt sein Mitbringsel in fester Hand neben sich. So stand er noch, als Dora ihren Mann geholt hatte.
    Dann stellte Methfessel sich von neuem auf, in der Haltung eines Leichenbitters zu ihnen gewandt, und hielt ihnen eine Ansprache. Es seien Zeiten, von denen man gar nicht wisse, was es für Zeiten seien, und oft werde etwas, das Einem nachgesagt werde, angesehen für etwas, das Einer beim besten Willen nicht gemeint habe, und im übrigen auch keines Weges getan. Er sah Arthur und Dora aber nicht an dabei, sondern hielt den Kopf leicht vorgeneigt und den Blick seitlich, als stünde auf dem gebohnerten Fußboden von Frau Semig geschrieben, was er aufsagte. Und so wolle er hiermit und auf alle Zeiten hoffen, daß alte Zeiten alte Zeiten bleiben möchten, in dem einen Sinn nämlich, und in dem anderen mit Vorzug. Semig verstand nicht, worauf hinaus er wollte. Das konnte auch Frau Semig nicht finden. Mit schwerem Seufzer setzte sich Methressel, legte sich die eingewickelte Sache aufs Knie und erzählte eine Geschichte, in der Baron Rammin und Oma Klug und ihre Katze ganz unter sich mit einander beschäftigt waren. Nach einer Weile gab Semig sich ein Aussehen, als habe er einen Wind von Methfessels Absichten bekommen, bot den Anstandsschnaps an, nahm gleich die erste Ablehnung als endgültig entgegen und erhob sich, um dem Abgang von Methfessel ja nicht im Wege zu stehen. Methfessel kam unverhofft rasch hoch aus Doras Armstuhl, um dessen dünne Beine er gefürchtet haben mochte, gab der Dame des Hauses seine Hand und ging zur Tür, aber zu der, die zu Semigs mittlerem Flur und zur Praxis ging. Arthur soll ihm hinterhergegangen sein wie einem Leithammel.
    – Hier: sagte Methfessel hinter der Praxistür, - Hier! sagte er und wickelte mit hastigen Grüßen das Stück Fleisch aus, das er bei sich hatte. - Sehn Sie sich das mal an! sagte er, und war für einen Moment wieder der behagliche, listige Mann, der er vor seiner Reise nach Fürstenberg gewesen war. Es war, als sei nun eine Sorge von ihm genommen und in besten Händen aufgehoben, jedenfalls nicht in den seinen. Saß da, als könne er allerdings mit Auskünften dienen. Dr. Semig hatte den weißen Kittel angezogen, damit Methfessel alle Formen gewahrt sah. Er tat ihm auch den Gefallen und trug die Probe hinüber zu dem Tisch am Fenster, wo er sein Mikroskop zu stehen hatte, seine Scheren, Nadeln, Pipetten, Chemikalien. Aber selbst wenn er da hätte eine bakteriologische Untersuchung vornehmen können, er hätte es nicht in Methfessels Beisein getan. Er blieb an seinem Drehstuhl stehen, damit Methfessel nicht geradezu Wurzeln schlug. Und Methfessel wollte nicht gehen. Er wollte auch nicht anfangen, ehe man ihm mit einer Frage nach den Geschäften auf die Sprünge half. Von den Geschäften konnte Methfessel endlich auf seine andere Sache kommen, und nun

Weitere Kostenlose Bücher