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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Flughafen Newark steht die Maschine ganz allein, weit draußen allein auf der Rollbahn, und will starten. Ich ahne, daß sie TRANSALL ILJUSCHIN heißt. In der Maschine sitzen auf Fischkisten lauter abgerissene Männer, Männer in Pullovern mit löcherigen Norwegermustern. In der Schleife nach dem Start beugt einer sich vor zu mir, und während ich ihn erkenne, sagt er: Gesine, tu doch nicht so. Tu nicht so fremd. Du bist genau wie wir zum Absturz verurteilt.
    – Und der Pilot?
    – Der hatte die Wahl. Dem haben sie die Wahl gelassen. In der Luft kann er sich nun frei entscheiden. Das geht uns aber nicht an.

8. Dezember, 1967 Freitag
    Liebe Marie. Ich erzähle deinem Tonband von heute.
    Heute morgen lehnte ein Mann recht schlapp an der Fahrstuhlwand, und nachdem der Kasten fünfzehn Meter durchs Haus gesaust war, wachte er ein bißchen auf und sagte mit einer Art Erstaunen Dschi-sain zu mir, und ich sprach ihn mit seinem Rang an, um ihn zu wecken. Aber er hatte sich immer noch nicht darauf besinnen können, daß er der Chef ist über einen beträchtlichen Teil der hiesigen Millionen, und in diesem wehrlosen Zustand überfiel ihn ein anderer Untergebener mit der Frage, wie ihm sein eigenes Bild in der New York Times gefallen habe. Denn de Rosny hat die New York Times in seinem Haus fotografieren lassen. - Das ist der wahre Ruhm, wennde auffe Frauenseite kommst: sagte er, und wahrscheinlich ist er hinter seinen Polstertüren auf den Teppich gegangen und zurück in den Schlaf.
    Eine Dreiviertelstunde später rief eine von den Sekretärinnen des Vizepräsidenten mich an. Wir sind zum Essen eingeladen. Ich hätte ihr gleich zustimmen mögen, aber sie ist es so gewohnt, de Rosny in den unterschiedlichsten Zeiten und Räumen unterzubringen, sie bestand darauf, mit mir über drei Termine zu verhandeln.
    In der New York Times steht beschrieben, wie der Präsident heimlich in die Stadt kam, um den toten Kardinal zu besuchen: mit seinem Flugzeug bis zum Marineflugfeld Floyd Bennett, mit einem Hubschrauber zur Schafswiese im Central Park, so daß er nur für eine Meile auf den Straßen der Stadt war. Und er verließ die Kathedrale durch den hinteren Ausgang. Das immerhin haben die Demonstranten gegen die Einberufung zum Krieg zuwegegebracht.
    Aus dem Büro ist schlecht erzählen. Dort ist das Leben so: »Leute, die eine Prüfliste nur paraphieren sollen, nämlich in ihrer Zuständigkeit für die Richtigkeit der Rechnung oder des Wortlauts, können immer wieder nicht sich enthalten, den Vorgang grundsätzlich zu diskutieren, und lassen in der Folge ihre Irrtümer unangetastet stehen. Manchmal läuft der Zettel noch rechtzeitig zurück, aber eigentlich müßte das Haus längst zu Bruch gegangen sein.« Du mußt dir dies als mit Stolz gesprochen vorstellen.
    Einer der Direktoren, der seinen Arbeitsauftrag als Rundgang mit Besuchen in den einzelnen Zellen auffaßt, belädt die Luft mit Furzdüften, wenn er zum Nachdenken angehalten wird. Sein Ziel ist es, eines Tages Vizepräsident zu werden, und wohl Keiner wird es über sich bringen, ihm zu sagen, aus welchem Grunde er es nicht erreichen wird.
    In einer der Fahrstuhlkabinen ist der Hausnummer im Fußboden eine Zahl ausgefallen. Das sieht man, und immer noch frage ich mich, ob ich tatsächlich dies Haus mit einem anderen verwechsle eines Morgens und es erst bemerke mit einem Blick gegen den Boden. In der Toilettenecke gibt es einen Fugenriß, der ist im letzten Jahr um einen Achtelzoll länger geworden. Das sieht man.
    Amanda, die kennst du. Du weißt, wie sie mit den durchreisenden Herren flirtet, ausdauernd, mit Genuß: Dies scheußliche Regenwetter, einem Herrn macht das ja nichts, aber wir Mädchen haben dann ein Gefühl in den Haaren, wir möchten sie uns fast vom Kopf reißen …! So redet sie. Sie hat gar nichts vor damit, und sie erkennt es auch wohl als Unsinn, nun kann sie nicht anders. Und die Herren stehen recht benommen vor ihrem Tisch und denken über den Sinn ihrer Worte nach und finden ihn nicht und suchen die Schuld bei sich selbst. Einer ging heute weg »wie ein Schaf«: sagte Amanda.
    Heute mittag hab ich eine Baustelle angesehen, halb so groß wie die Blocks zwischen den Avenuen Park und Lexington sind. Anders als in Deutschland sind in die Holzzäune Fenster geschnitten für die Passanten, die Oberaufseher des Bürgersteiges, und nun stehen sie aufgestützt da und betrachten das unebene Feld, über dem das Haus, die Häuser nicht mehr vorstellbar sind, nur

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