Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
will Geld auf ein Spendenkonto. Nicht zu allen Nachrichten paßt ein solcher Refrain: Gedenkt der Bedürftigen!
11. Dezember, 1967 Montag
Aus der New York Times von heute hat Marie drei Bilder geschnitten und wird sie aufbewahren:
Das eine, von der Titelseite, bringt uns ins Haus die heitere Witwe des Präsidenten Kennedy, weil sie im Hotel Plaza für die Partei der Demokraten essen ging.
Das andere präsentiert die Hochzeitsgesellschaft der Lynda Johnson in einem Halbkreis aufgestellt, alle mit gesenkten Köpfen, eine Person sogar knieend. Jedoch sind die Leute nicht am Beten, sondern betrachten eine Aufzeichnung des Festes im Fernsehen. Der Artikel schließt mit dem Refrain: Gedenkt der Bedürftigen!
Das dritte ist ein Kunstwerk und zeigt eine ärmlich gekleidete Frau, die ein kleines Kind auf dem Arm hält, in einem fast völlig kahlen Raum. Der Fußboden sieht kaputt aus, und das Fenster, als ließe es nicht nur das Licht vom Hinterhof herein, sondern auch den Wind. »Viele New Yorker, so wie diese puertorikanische Mutter und ihr Kind, sehen einem langen, kalten Winter entgegen, mit wenig Hoffnung, wenig Geld, und oftmals keiner Heizung.«
Edmondo Barrios, der erste Freund Maries in diesem Lande, ist in einer solchen Wohnung in Ost Harlem aufgewachsen.
In ihren ersten Erzählungen aus dem Kindergarten kam er nicht vor. Da hatte sie zu klagen über die Kindererziehung in diesem Land. Sie war aus Düsseldorf gewöhnt, daß man sich ganz und gar an ein anderes Kind hängen durfte und hatte also auch hier sich eins als das liebste ausgesucht und nahm den Platz neben ihm und sah ihm auf den Mund und ging ihm hinterher (so wie ich D. E. hinterherlaufe, wenn er aufsteht und zum Kühlschrank geht und sich eine neue Flasche holt und zurückkommt an den Tisch: nur daß ich ihn sehen kann beim Aussprechen jenes Satzes, den ich nicht weniger deutlich im Sitzenbleiben hätte hören können). Dies Kind war Pamela Blumenroth, und Marie hat sie nicht sich nehmen lassen. Sie sollte ihr aber genommen werden, denn in der Gesinnung der Erzieherinnen galten Bindungen an nur einen Partner schon bei vierjährigen Kindern als riskant, und Marie wurde beim Imbiß neben ein anderes gesetzt, Mark den Küsser, und sollte nun mit ihm spielen, und wünschte nicht ihn, sondern Pamela. Das Ziel einer solchen Erziehung war eine allseitige Bekanntschaft zwischen allen Kindern in dieser Klasse, und das Wort hieß togetherness, Zusammenbefindlichkeit, und Marie hat es lange verstanden als einen Ausdruck für gewaltsame Trennung, und sie betrieb es als eine Heimlichkeit, wenn sie sich für die Nachmittage eben doch nicht Mark den Küsser in die Wohnung lud, sondern Pamela, die freundliche, die anstellige, die kleine Person, die damals ein Gesicht hatte wie eine irische Bauersfrau.
Damit Marie lernte, die Freunde zu wechseln wie die Hemden, geriet sie auch an Edmondo. Sie hatte vorher von ihm gesprochen als »dem Kind, das haut«. Dann war ihr aufgefallen, daß er regelmäßig eine bestimmte Gruppe Kinder in der Klasse angriff, nämlich Jungen, »die eine solche Haut haben wie ich«, und so kam heraus, daß er zu den »Gefärbten« gehörte. Offenbar brauchte dieser Edmondo gar keinen Anlaß für einen Streit, sondern warf einen beliebigen Rosahäutigen zu Boden und setzte sich auf ihn und machte ihn mit den Fäusten fertig. Die Genossen des Opfers nahmen oft an, die Auseinandersetzung stamme doch aus einem Grund, und hielten sich an ihre Regel, daß man in einen Zweikampf nicht eingreift. Nun kam Marie und legte eine Hand auf seinen Arm und sagte: Laß das, auf Deutsch, und nicht als Befehl, sondern als Wunsch, und damit er sie ganz sicher verstand, schüttelte sie auf eine gefällige Weise den Kopf, so daß Edmondo in seiner namenlosen Verblüffung den Kampf vergaß, der ihm eben noch unausweichlich gewesen war. Er ging der merkwürdigen Person mit der sonderbaren Sprache nach und hielt sie von Stund an als seine Freundin, und zwar nicht wie die schwarzen Mädchen der Klasse, denen er nach wie vor den meist ungnädigen Pascha machte, sondern wirklich wie ein Kind, das man verstehen, erfreuen und beschützen will. Als Maries Beschützer hätte er noch bequemer in Gelegenheiten zum Puffen und Schlagen kommen können, aber Marie hielt ihn zurück, indem sie sich den Anschein gab, als sei sie nur für ihn da und David Double-U gar nicht im Raum vorhanden. Sie hatte auch keine Angst vor ihm. Die Erzieherinnen beobachteten die Freundschaft
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