Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Arbeitslosenziffer ist runter auf 3,9 Prozent, und war früher nur so hoch, weil die Statistik auf die Streiks hereingefallen ist. In der Stadt gibt es 200 000 Rauschgiftsüchtige, »die ihr Leben um Drogen herum organisieren«, und drei Geheimpolizisten, die dies Gebiet bearbeiteten, stehen im Verdacht, selber Narkotika verkauft zu haben, und unter fast jeder Nachricht steht VERGISS NICHT DIE BEDÜRFTIGEN , weil Weihnachten anrückt. Doch, wir wären uns einig.
Du kannst nicht kommen das Land ansehen, aber ich kann dir erzählen. Wie dein Brief ankam. Am Morgen gegen neun hielt ein Wagen der Post vor unserem Haus, und der Fahrer trug einen kleinen Armvoll zu Mr. Robinson und sprach mit ihm über die Tariflöhne. Gegen halb zehn hatte Mr. Robinson die Briefschaften geordnet und reiste mit dem Fahrstuhl unter das Dach. Von da ging er in ein Stockwerk nach dem anderen, und zwar in jeden Korridor zweimal. Beim ersten Gang warf er die Drucksachen vor die Wohnungschwellen. Das ist ein platschendes, hallendes Geräusch, das die Post erst ankündigt. Post ist da für dich, wenn die Tür der Wohnung leise, unter einem sanften Puff erbebt. Dann hat er die echten Briefe zwischen Tür und Rahmen gedrückt, in der Höhe des Schlosses. Dort, verstehst du, sind sie mehr tabu, als die Werbeschriften auf dem Steinfußboden. Manchmal kommt er ein drittes Mal, mit Päckchen oder Paket, und klingelt und sagt: I’ve got NEWS for you! Bei uns nicht, bei uns vergeblich, denn ich bin längst im Geschäft und Marie auch schon in der Schule. Ich habe Mr. Robinson noch nie bei dieser Arbeit gesehen. Seit ich einmal, an einem Sonnabendmorgen, seine Geräusche gehört habe, stelle ich es mir so vor und weiß, daß es so ist. Übrigens weiß Mr. Robinson über den Tageslauf der Mieter Bescheid und würde ein Päckchen für uns im Tagesraum des Personals aufheben und erst ab vier Uhr beginnen, es im Fahrstuhl mit sich zu führen, damit er uns damit bedienen kann, sobald er uns sieht. Nun wie ich den Brief an dich loswerden könnte. Da sind die gewöhnlichen Briefkästen, blau, und rot auf dem Kopf. Aber sie hängen nicht an Hauswände geschraubt, sie stehen frei an den Straßenecken, und wenn man am Griff unter der halben Stirnwölbung zieht, zeigen sie ein Schaufelmaul. Sie haben olivgrüne Geschwister, aber es sind Stiefkinder, denn ihr Kopf ist ganz geschlossen, und sie müssen einem Jeden unaufgefordert sagen: Wir nehmen keine Post. Sie tun es aber doch, von Postboten. In den großartigen Häusern des Riverside Drive sind bronzene Platten, einem Wappen ähnlich, in die Wand gesetzt und zeigen einen Schlitz und sagen dir deine Postleitzahl. Im Foyer unseres Hauses ist der Kasten nur altes Gußeisen, nicht elegant, aber allein für unser Haus. Dahin gehen muß ich nicht. Denn in den Bürofestungen wie den Appartementhäusern laufen flache Glasschächte von oben nach unten, die auf den Fluren Münder öffnen. In ihnen flattert der Brief abwärts, aber ein Stockwerk tiefer erschrickt der Wandelnde schon vor einem rasenden Fleck, der ihm durch den Augenwinkel saust, hinab zu unserem großväterlichen Gehäuse, das der Postmann mehrmals am Tage besucht in seinem Auto, wie jetzt um neun Uhr in der Nacht. Das Auto, das ich unter meinem Fenster sehe, ist aber blau und weiß und läßt beim Zurücksetzen rote Augen leuchten und kann schrille Töne der Warnung ausstoßen. Der Fahrer tritt von seiner geräumigen Kabine an die Tür des Laderaums, greift sich einen Sack, betritt das Haus, kommt zurück mit dem Sack, läßt sich in den Laderaum und schaltet diesmal das Licht an, das wir von oben gelb im nachtgrauen Wagendach erscheinen sehen. Nun von der Post überhaupt. Die Uniform der Postboten ist ein Hemd von hellem Blaugrau, das mit einer gewirkten Plakette auf dem Oberarm den Beruf wörtlich nimmt: Der Mann hier drin ist ein Träger von Briefen: sagt sie. Und es ist bekannt, was Herodot über sie geäußert hat. Sie tragen Handschuhe und können dennoch eine Vielzahl kleiner Schlüssel regieren, die sie an einer Kette am Bund hängen haben, oder in der Hosentasche. Da die Post heilig ist, sind ihre Ämter nach den Mustern der klassischen Tempel aufgeführt, und da sie der Union der Staaten gehört, hängen in ihren Niederlagen die Steckbriefe. Ein Wagen der Post hätte Vorfahrt noch vor einem Feuerwehrauto im Einsatz. In der Stadt sind die Fenster der Post sorgfältig mit Gittermustern verkleidet, auf dem Lande sind die Pulte und die Theken offen.
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