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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Auf dem Lande leben wir nun nicht. Und wären dahin gern mit dir gefahren.
    Marie bittet um deine Aufmerksamkeit und sagt, daß sie weiß wer du bist.
    So verwegen bin ich nicht, sondern deine wohlaffektionierte G. C.
    Dein Brief wird einen Stempel vom Amt Grand Central haben.
    Du kriegst vom Besten.

15. Dezember, 1967 Freitag
    In einem, in den Druckfehlern, zeigt sich die New York Times als die alte Dame, die sie ist. Heute spricht sie von einem »Wost Important Target«, der Brücke Longbien bei Hanoi. Daß doch den Piloten die Hände so flatterten wie der New York Times.
    Und den griechischen König hält sie immer noch für eine Nachricht. Ist der Mann doch aus der römischen Botschaft umgezogen zu einem Vetter.
    Diese Rauschgiftdetektive sollen ja bei einer Razzia auf Rauschgift einen Verdächtigen um 2783 Dollar bestohlen haben. Und darunter steht der Refrain: GEDENKE DER BEDÜRFTIGEN !
    Und eine Geschichte bringt die New York Times eigens für Marie. Sah Seine Ehren John Vliet Lindsay in der 48. Straße nahe der Fünften Avenue eine leere Zigarettenschachtel aus der Fahrerkabine eines Lastwagens fliegen. Rannte er hinterher und schmiß die Schachtel zu den drei Männern in der Kabine. - Ich bin der Bürgermeister: sagte er wütend. - Ich versuche die Stadt sauberzuhalten. Sie sollten sich was schämen.
    – Yes sir: sagten die Männer im Lastwagen. Fast hätten die an ihre Hüte getippt.
    Und immer gibt es Leute, die bringen den Ernst, der angebracht ist, nicht an. Sagt doch ein Passant zum Bürgermeister: Finders keepers, Mr. Mayor. Was man findet, soll man auch behalten.
    Und ganz ohne Arg fällt Marie darauf herein und sagt: John Lindsay hat ganz recht! Recht hat er! Ich weiß gar nicht, was du da zu lachen hast!
    Weather: Mostly fair, windy and colder today, tonight and tomorrow.
     
    – Ich werde dich jetzt prüfen: sagt Marie. - Ich werde jetzt mal nachsehen, woher du deine Vergangenheiten hast. Das hat jetzt ein Ende mit dem Anlügen. Erzähl mal was über das Kind Gesine, als es zwei Jahre alt war!
    – Das Kind Gesine, als es zwei Jahre alt war, konnte sitzen, stehen, gehen, ein wenig sprechen, und das Kind las die Zeitung.
    – Schon hab ich dich ertappt! ruft Marie. - Das hab ich auch getan! Das hast du von mir!
    – Du, Marie, hast im Alter von zwei Jahren die Frankfurter Allgemeine Zeitung gelesen, jawohl. Aber du durftest nicht den kleinsten Riß hineinmachen, nicht einmal aus Versehen, und du hast es rasch gelernt. Du hattest fast von Anfang an einen Respekt vor Bedrucktem. Aber das Kind in Cresspahls Haus las den Lübecker General-Anzeiger, das Anzeigeblatt für Lübeck, Schleswig-Holstein und Mecklenburg. Und die Erwachsenen sahen dem Kind genüßlich zu, wenn es die Zeitung in einem großen armebreitenden Schwung in Hälften trennte, einmal, weil die Lügen wenigstens auf diese Weise aus der Welt geschafft wurden, und in diesem Zustand war das Papier wenigstens zum Anfeuern gut.
    – Eins zu Null: sagt Marie, verdrossen. Dann kann ein Einfall sie ganz listig machen, ihr Gesicht wird ganz offen von vorfreudigem Lächeln, und sie sagt: Und das Kind Gesine hielt die Zeitung verkehrt herum.
    – Ja.
    – Wie ich! sagt Marie. - Wie ich!
    – Eins zu Eins. Glückwunsch, Marie.
    – Ich bin noch lange nicht fertig! sagt sie. - Was sprach das Kind denn so, wenn es mal sprach?
    – Das Kind hielt die folgenden Worte für wichtig und versuchte sie nachzuahmen: Cresspahl, Bär, Buttermilch, Katze. Und wenn der Name ihres Vaters ausfiel als Esspå, wirst du dir die übrigen denken können. Platt, übrigens.
    – Und das Wort Mutter nicht?
    – Es ist möglich. Da es wahrscheinlich ist, laß uns das annehmen.
    – Und ich?
    – Es war dein zweites Wort, und du benutztest es in der Form meines Vornamens. Du sagtest: Ine. Ine.
    – Keine Punkte: sagt Marie enttäuscht.
    – Keine Punkte.
    – Und der Bär? sagt sie so beiläufig sie kann.
    – Den sprach das Kind bei Cresspahl aus als d’Bä. Das Kind hatte schon begriffen, daß es gewisse Löcher in der Sprache frei lassen sollte, aber noch nicht, was genau hineingehörte. Die Artikel waren alle von einer Form, auch die Verben sein, haben, kommen. Die waren ein angehängtes s: ’o’s’d’Bä? Der Vokal im Wort Bär war dem englischen Bear näher.
    – Und der Bär hieß nicht zufällig Edward mit Vornamen und lebte unter dem Namen Sanders in goldenen Buchstaben in a forest all by himself? sagt Marie. Sie ist ganz schnell geworden, sie ist sich

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