Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Atlantik gedrückt, seit zwei Tagen rauchen die Schornsteine nicht, und die Luft ist klar, kühl und rasch. Es ist das erste Wochenende in diesem Sommer, an dem es nicht geregnet hat. Vom Riverside Drive aus, über die ganze Breite des Hudson, sind auf dem Ufer New Jerseys scharf und unleugbar die bräunlichen Kästen und Zylinder zu sehen, moderne Baukunst, die zerstörte Aussicht, die in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschlagnahmt werden sollte für den Riverside Drive.
Die Häuser an dieser Straße, kaum eines unter zehn Stockwerken, wurden gebaut für die neue Aristokratie des neunzehnten Jahrhunderts, für das junge Geld, Eisenbahngeld, Minengeld, Erdgasgeld, Ölgeld, Spekulationsgeld, das Geld der industriellen Explosion. Riverside Drive, die Straße am Fluß, sollte die Fifth Avenue als Wohngegend übertreffen, mit seinen herrschaftlichen Eingängen, feierlichen Foyers, den Achtzimmerfluchten, den Dienstbotenkammern, versteckten Lieferantenfluren, den Angestellten in der Uniform, mit der reservierten Aussicht auf den Fluß, die wüsten Wolken Wald auf dem jenseitigen Steilufer, auf Natur. Am ganzen Riverside Drive gibt es nicht ein Geschäft, keinen Laden, nur zwei, drei Hotels, allerdings Residenzen für Dauergäste. Wo der Kommerz wohnte, wollte er von Adel sein. Hier wohnten solche Figuren wie William Randolph Hearst, und zwar wohnte er gleich auf drei Stockwerken, die er später zu einer dreistöckigen Halle ausbaute, der seinen privaten Fahrstuhl hatte, dann noch mehr Stockwerke, bis er sich alle zwölf kaufte, 1913. Eine Adresse am Riverside Drive bedeutete damals Vermögen und Kredit, Macht und fürstlichen Rang. Es war eine Straße für Weiße, Angelsachsen, Protestanten. Zu ihnen stießen nach dem Ersten Weltkrieg jene Juden aus Harlem, denen die ehemals exklusiven Quartiere nicht mehr standesgemäß schienen, und die Immigranten von der unteren Ostseite der Stadt, deren Einnahmen inzwischen ausreichten für das Prestige dieser Adresse, Emigranten, die es geschafft hatten. In den dreißiger Jahren kamen die Juden aus Deutschland, anfangs mit dem Haushalt in Kisten, dann ohne Gepäck, dann aus den von Deutschland besetzten Ländern Europas, und nach dem Krieg kamen die Überlebenden der Konzentrationslager und schließlich die Bürger des Staates Israel, unveränderliche Europäer, die mit der Belagerung und dem Klima Israels nicht zurechtgekommen waren, so daß am Riverside Drive und an der West End Avenue dahinter eine jüdische Kolonie versammelt war, zusammen in der Religion, zusammen in der Verwandtschaft, zusammen in der Erinnerung an Europa.
Die Belgier haben mich Madame genannt, und die Amerikaner sagen mir Liebling . In Europa verbeugen sich die Kinder beim Gruß vor den Erwachsenen. Meine Familie war seit fünf Jahrhunderten in Deutschland. Mit dem langen französischen Brot unterm Arm kam mein Vater nach Hause. Mein Vater ist -.
Ihr Vater ist von den Deutschen umgebracht worden, Mrs. Blumenroth.
Mein Vater ist früh gestorben, Mrs. Cresspahl.
Der Riverside Drive hat die Fifth Avenue nicht überflügelt als Residenz, hier wohnt nicht die Witwe des Präsidenten Kennedy. Hier wohnen die Pensionäre, die Leute mittleren Einkommens, die angestellte Klasse, Studentengemeinschaften. Hier wohnt die Gräfin Seydlitz. Hier wohnt der Schriftsteller Ellison. (Der Geselle beim Schlachter Schustek lehnt es ab, hierher zu ziehen, er glaubt an den eigenen Rasen vor dem eigenen Haus.) Die meisten Häuser sind sich noch zu fein für dunkelhäutige Bürger als Mieter; Neger dürfen sie verwalten, in Stand halten, den Lift führen, das Messing putzen. Und in den Denkmälern des Wohlstands sitzt das Alter wie eine vernachlässigte Krankheit. Manche der vornehmen Wohnflächen sind aufgeteilt in sparsame Kleinappartements, und viele Nachbarn klagen über leckende Heizungen, Geklapper in der Klempnerei, Ketten von Defekten an den Fahrstühlen und in den Foyers jene sanfte Haut aus Schmutz über dem Marmorpaneel und dem ältlichen Mobiliar, gegen die Wasser und Besen nichts mehr vermögen. In einigen Häusern sind die Mieten durch ein Gesetz seit dem Kriege eingefroren. Die Türsteher, die nicht nur den Mieter begrüßen, sondern auch den Einbrecher und Kindesentführer abschrecken sollten, sind heutzutage selten zu sehen, und oftmals sind die bemannten Aufzüge ausgewechselt gegen automatische, in denen die Fahrgäste einen Fremden mit Vorsicht besehen. Immer noch sind hier Wohnungen gesucht
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