Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
Syndrom gehören ihre Unruhe, ihre Schlaflosigkeit und eine dauernde Entzündung der Atemwege, gegen die sie sich nur zu helfen weiß, indem sie den Schleim in den Hals zieht, mit einem harten, kratzenden Geräusch. Wir haben sie hiernach nicht gefragt. Sie hat dies in sechs Jahren erwähnt, achtlos und nebenher, wie man unter Freunden Stücke aus seinem Leben erzählt.
Mrs. Ferwalter war die erste von den europäischen Emigrantinnen am Riverside Drive, die Gesine in der Nachbarschaft beriet, ihr einen Kindergarten für Marie vorschlug, ihr Geschäfte mit importierten Lebensmitteln zeigte, sie vor Läden von »schlechten Juden« warnte und immer von neuem auf alles »Europäische« auf der Oberen Westseite von Manhattan hinwies. Sie hat Heimweh nach dem Geschmack des Brotes in Budweis, und vielleicht hat sie in diesen sechs Jahren an Gesine festgehalten mit Telefonanrufen und Spaziergängen und Gesprächen im Riverside Park, weil diese Deutsche den Geschmack des Brotes kennt, den sie entbehrt.
Im Park an den Sonnabendvormittagen wartet sie auf ihren Mann und ihren Sohn, die zum Gottesdienst gegangen sind. Sie selbst nimmt sich Freiheiten mit ihrem Gott, aber sie achtet darauf, daß Rebecca den Sabbat nicht entheiligt und etwa anfängt, mit anderen Kindern zu laufen oder zu nahe an den Mann mit dem Eis herangeht. Wenn sie nach ihrer Tochter ruft, ist ihre Stimme über den ganzen Spielplatz zu hören, ein gellendes Gekreisch, und Rebecca wandert mürrisch im Kreis um die Bank, auf der Mrs. Ferwalter regiert. Wenn Mrs. Ferwalter aber sich unbeobachtet glaubt, beugt sie sich vor zu Gesine und sagt, mit zwinkerndem Blick zu Rebecca hin, verschwörerisch lächelnd: Es flaniert, das Kind. Es hat lange Beine, das Kind. Sie läßt sich von Gesine aus der Zeitung vorlesen, sie würde für eine Zeitung kein Geld ausgeben. Rebeccas Schule ist teuer, und ihr Mann verdient nicht viel als Geschäftsführer eines kleinen Schuhgeschäfts am Broadway. Sie stellt ihre Beine hin und her, schlägt die Knöchel übereinander, rutscht auf der Bank. Sie kann nicht ruhig sitzen. Sie nickt mit ihrem fetten Kinn, angewidert, angeekelt, über die Nachricht, daß die Sowjets zwei Diplomaten der U. S. A. ausgesperrt haben, weil die U. S. A. zwei Diplomaten der Sowjets ausgesperrt haben. Sie nickt, als wüßte sie alles über Spionage.
Die neusten Nachrichten von der Mafia. Offenbar haben alle fünf Familien der Mafia im Gebiet von New York sich endgültig vom Rauschgifthandel zurückgezogen. Sie ziehen es nun vor, ihre Barreserven auf die Machtergreifung in legitimen Unternehmen zu verwenden. Die Zuchthausstrafen für einige Familienangehörige, bis zu vierzig Jahren, waren abschreckend genug. Zum anderen sind die korsischen und französischen Zulieferer von Heroin verärgert, weil die Mafia sich weigert, für eine Sendung im Wert von 2,8 Millionen Dollar (100 Millionen im Einzelhandel) zu bezahlen, denn nicht sie, sondern die Bundespolizei hat den Stoff in Empfang genommen. Der Handel mit Heroin scheint nun über kubanische und südamerikanische Mittelsmänner zu laufen. Die Leute in Frankreich verpacken das Zeug gern in Oszilloskopen.
Mrs. Ferwalter ist aufgestanden und zum Eingang des Spielplatzes gegangen, wo zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn, beide feierlich in schwarzen Anzügen und unter stummeligen schwarzen Filzhüten, Marie den Karren mit den Vorräten für die nächste Woche heranfährt, angestrengt und mit eingezogenen Lippen vor Verantwortung, und Mrs. Ferwalter führt Marie auf den Spielplatz, einen Arm zärtlich um ihre Schultern gelegt, und stellt sie auf vor Gesine und ruft: Sie ist eine Sport! Wie eine rechte Tschech!
Jetzt ist ihr Mund locker, und ihre Augen sind weit offen.
3. September, 1967 Sonntag
An einem Tag wie diesem, vor 36 Jahren. An einem weißen Tag wie diesem, kühl unter hartem Blau, in sauberer, laufender Luft. Auf dem Strandweg in Rande, neben der grau und grünen See, gegenüber dem scharfen und finsteren Umriß der holsteinischen Küste. Unter flackrigem Laub sich auf der Sonnenseite halten. Cresspahls Stimme muß damals ein schwerer Baß gewesen sein, mit heiseren Vokalansätzen, im malchower Platt; die meiner Mutter klein, biegsam, ein hoher Alt. Manchmal unterläuft ihr eine hochdeutsche Redewendung, »wenn Gott will«, oder »meiner Mutter wegen«. Sie ist hinter ihren Eltern zurückgeblieben, und Louise Papenbrock dreht wieder und wieder den Kopf über die Schulter nach dem Fremden, der ihre
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